Limonow (German Edition)
Lecter – den Skandalautor Limonow gesetzt hatte. Sie widmete ihm einen wahren Kult, und im Gefängnis begann auch er, sie glühend zu verehren. In seinem Buch fasst er die Erinnerungen an ihre zwei gemeinsamen Jahre wie Juwelen ein. Sie ist jetzt neunzehn, und er fragt sich beunruhigt, was da draußen aus ihr wird, ob sie ihn nicht vergisst, ob sie ihn nicht betrügt. Normalerweise rühmt er sich, ein scharfsichtiger und realistischer Mann zu sein. Auch wenn er sich selbst der Treue für fähig hält, nährt er keinerlei Illusionen über die von anderen. Elena, Natascha, Lisa – nicht einen Augenblick lang hätte er sich bei ihnen ausgemalt, sie würden in einer solchen Situation bei ihm bleiben. Bei Nastja tut er es. Bei Nastja hofft er, sie würde auf ihn warten, er glaubt daran und wäre verzweifelt zu erfahren, sie habe es nicht getan.
Aber wie lange? Er hat die Schwelle des Gefängnisses als ein Mann von achtundfünfzig Jahren überschritten, als ein Mann, der nicht ein Gramm mehr wiegt als mit zwanzig und sich auf dem Gipfel seiner Mittel und seiner Verführungskraft befindet, doch niemand weiß, wann er es wieder verlassen wird und ob er dann nicht trotz seines starken Willens und seines Widerstands wie die niederschmetternde Mehrheit der Gefangenen ein gebrochener Mann sein wird.
In Lefortowo ist man nicht gezwungen, sich zu rasieren oder sich die Haare schneiden zu lassen, und weil man ihn herausfordert, lässt er die seinen wachsen. Wenn er schreibt, fegen sie über die Tischplatte. Wenn das so weitergeht, werden sie noch den Boden kehren. Er wird nicht mehr Edmond Dantès in Der Graf von Monte Christo ähneln, sondern seinem greisen Freund im Château d’If, dem Abbé Faria.
2
Fünfzehn Monate bleibt er in Lefortowo dieser Auflage von strenger Isolation unterworfen. Dann fliegt man ihn in einer Antonow der Regierung und mit einer Polizeieskorte, die so beeindruckend ist, als sei er Carlos oder die ganze Baader-Bande in einer Person, nach Saratow an der Wolga, wo sein Prozess stattfinden soll. Warum nach Saratow? Weil dort die russische Gerichtsbarkeit ihren Sitz hat, die geografisch Kasachstan am nächsten gelegen ist, denn dort soll er die Verbrechen begangen haben, die man ihm vorwirft. Welche Verbrechen? Im Gegensatz zu Lefortowo ist es in Saratow unmöglich, nicht darüber Bescheid zu wissen, denn bei jeder Gelegenheit hat man nicht nur seine Identität durchzudeklinieren – Name, Vorname und Vatersname –, sondern auch die Artikel, aufgrund derer man inhaftiert ist. So lernt Eduard gleich bei seiner Ankunft, wie aus der Pistole geschossen dieses Mantra abzuschnurren, das ihm auch heute noch aus den Lippen sprudelt, wenn man ihn aus dem Schlaf reißt: »Sawenko, Eduard Wenjaminowitsch, Artikel 205, 208, 222 – Absatz 3 und 280!«
Zur Erklärung: 205, das ist Terrorismus; 208: widerrechtliche Organisation einer bewaffneten Vereinigung oder Mitwirkung in einer solchen; 222, Absatz 3: unerlaubter Erwerb, Transport, Verkauf oder widerrechtliche Lagerung von Waffen; und 280: Anstiftung zu extremistischen Aktivitäten.
Als der Ermittlungsrichter ihm bei ihrer ersten Begegnung die Hauptanklagepunkte vorträgt und die sehr hohen Strafen, die daraus resultieren, ist Eduard hin- und hergerissen: Einerseits ist er stolz, solch schwerwiegender Dinge beschuldigt zu werden, ande rerseits muss er ein vitales Interesse daran haben, sich zu entlasten. Einerseits fällt es ihm schwer zuzugeben, dass ein halbes Dutzend Faulenzer in einer Hütte im Altaigebirge in hundert Kilometer Entfernung von der kasachischen Grenze und ohne andere Waffen als ein paar Jagdflinten etwa so große Chancen hatten, Kasachstan zu destabilisieren wie allein aus ihrem Winkel heraus einen Atomkrieg auszulösen. Andererseits hat er, wenn er nicht zwanzig Jahre lang als Terrorist in einem Loch krepieren will, keine andere Wahl, als sich als Clown hinzustellen. Der Richter allerdings scheint nicht gewillt, seinen Argumenten Gehör zu schenken und lässt sich nicht von der Version des FSB abbringen, und derzufolge stellen Eduard und seine sechs Komplizen eine ernsthafte Gefährdung der Sicherheit des Landes dar.
Um die Geschichte in diese Richtung zu biegen, wird ein Fernsehbeitrag gedreht, der diese Version illustriert, und er wird genau im Moment seiner Ankunft in Saratow vom ersten russischen Sender ausgestrahlt. Nach seiner Verhaftung hat es den 11. September gegeben, und das spürt man: Der Beitrag stellt die
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