Limonow (German Edition)
trockenen Bände von Lenins Korrespondenz aus, liest sie aufrecht sitzend an seinem Tisch und macht sich dabei Notizen in sein Heft. Diese Gefälligkeiten sind die einzigen, um die er je bittet: ein Tisch, eine Lampe, die ausreichend Licht macht, und ein Heft; und die Wächter, die ihn immer mehr bewundern, gewähren sie ihm gern. In einem Jahr schreibt er mit dieser Gangart vier Bücher, darunter eine politische Autobiografie und einen nicht einzuordnenden Text, meiner Meinung nach den schönsten seit seinem denkwürdigen Tagebuch eines Versagers : Das Buch der Gewässer .
Bevor er im vorangegangenen Sommer ins Altaigebirge fuhr, trieben ihn dringende Geldnöte dazu, innerhalb eines Monats das Buch der Toten fertigzustellen, dessen ich mich viel bedient habe. Darin zeichnete er Portraits von berühmten oder unbekannten Leuten, denen er begegnet ist und die inzwischen tot sind, und ließ ungeordnet seine eigenen Erinnerungen einfließen, und trotz der Verpflichtung, mehr als zwanzig Seiten am Tag zu schreiben, um die Fristen einzuhalten, gefiel ihm diese Übung dermaßen, dass er im Gefängnis Lust bekommt, Ähnliches noch einmal zu versuchen. Er hätte wie Georges Perec eine Liste der Betten aufstellen können, in denen er gelegen hat, oder wie Don Juan jene der Frauen, mit denen er geschlafen hat, er hätte als guter Dandy auch die Geschichte einiger seiner Kleider erzählen können. Doch er wählt Gewässer: Meere, Ozeane, Flüsse, Seen, Becken und Schwimmbäder. Nicht unbedingt Gewässer, in denen er gebadet hat – obgleich er sich, sobald er schwimmen konnte, versprochen hatte, dies jedes Mal zu tun, wenn es irgend möglich war, und wie man ihn kennt, ahnt man, dass er sich wohl selten von Kälte, Dreck, der Höhe der Wellen oder der Heimtücke von Strömungen hat abhalten lassen. Das Buch folgt weder einem chronologischen noch einem geographischen Plan, vielmehr springt er nach Lust und Laune von einem Strand an der Côte d’Azur, wo er Natascha beim Schwimmen zusieht, zu einem Bad im Kuban-Fluss mit Schirinowski. Er erinnert sich an seine Spaziergänge entlang der Seine während seiner Zeit in Paris, an die Sirenen der Schiffe, die er von seinem Fenster bei dem Milliardär Steven aus auf dem Hudson kreuzen sah; an einen Brunnen in New York, in dem er betrunken badete und seine Kontaktlinsen verlor; an die bretonische Küste mit Jean-Edern Hallier und den Strand von Ostia in der Nähe von Rom, wohin er einige Monate vor Pasolinis Ermordung am selben Ort mit Elena gefahren war; an das Schwarze Meer während des Transnistrien-Kriegs, an die Gebirgsbäche im Altai, wo der Trapper Solotarew ihn das Fischen lehrte; und an das große Wasserbecken im Jardin du Luxembourg, aus dem er während der ersten Zeit seines Aufenthalts in Paris die Karpfen fangen wollte, so ausgehungert war er. Es gibt etwa vierzig kurze Kapitel dieser Art, die klar und strahlend sind, Orte und Zeiten aufeinanderprallen lassen und sich doch in ihrer Strukturlosigkeit rund um die Frauen seines Lebens ordnen.
Anna, Elena und Natascha kennen wir bereits. Er erzählt ausführlich, mit welcher Liebe er sie alle drei liebte, wie er die eine verließ und die beiden anderen ihn verließen, wie sie ihn verrückt machten vor Kummer und wie – das zumindest sagt er – die beiden letzteren ihren Entschluss bitter bereuten, denn ihre Chance auf ein Leben jenseits des Gewöhnlichen, das war er. Lisa und später Nastja haben wir dagegen nur kurz zu Gesicht bekommen, und ich weiß, mit welcher Heftigkeit der Geist der Zeit die Neigung reifer Männer für das frische Fleisch verurteilt; ich selbst finde es eher mitleiderregend, wenn ein sechzigjähriger Typ nur mit Mädchen schläft, von denen eine jünger als die andere ist, aber so ist es eben, und Das Buch der Gewässer ist eine Hymne an die kleine Nastja, die sechzehn Jahre alt war, als er sie traf, und aussah wie zwölf. Er kaufte ihr Eis und wachte über ihre Hausaufgaben, und wenn sie beide Hand in Hand an den Ufern der Newa in Sankt Petersburg oder denen des Jenissei in Krasnojarsk spazieren gingen, war niemand schockiert, denn man hielt sie für Vater und Tochter. Nastja war keine spektakuläre Schönheit wie Elena, Natascha oder Lisa, sondern eine kleine, schüchterne, introvertierte, fast autistische Punkerin von einem Meter achtundfünfzig, die auf ihren Altar für zügellose Halbgötter neben den Skandalrocker Marylin Manson und den Serienmörder Tschikatilo – den ukrainischen Hannibal
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