Limonow (German Edition)
Klamottenkult zu würdigen, aber da man ihn als jemanden kennt, der nicht lange fackelt, bevor er sein Messer zieht, begnügt man sich damit, über ihn zu lachen, und beschimpft ihn nicht als Tunte.
Das Dandytum ist es auch, was ihm an den Jazzern gefällt, die sein neuer Freund so vergöttert. Für die Musik hat er nicht viel Sinn, und das wird sich sein Leben lang nicht ändern, hingegen beginnt er wieder zu lesen. Er war bei Jules Verne und Alexandre Dumas stehengeblieben, jetzt macht er bei Romain Rolland weiter, von dem Kadik ihm Johann Christof und Die verzauberte Seele ausleiht, dicke, nebulöse Entwicklungsromane, von denen ich glaube, in Frankreich einer ihrer letzten jugendlichen Leser gewesen zu sein, doch die sich in der Sowjetunion eines Rests an Beliebtheit erfreuen, weil ihr Autor als Pazifist ein Weggefährte der Kommunisten war. Von da aus geht er zu Jack London und Knut Hamsun über, den großen Vagabunden, welche die verschiedensten Berufe ausgeübt und ihre Bücher mit eigenen Erfahrungen gespeist haben. In der Prosa gelten seine Vorlieben ausländischen Autoren, aber wenn es um Lyrik geht, kommt keine an die russische heran; und ein Junge, der Gedichte liest, wird ganz zwangsläufig zu einem, der Gedichte schreibt und der das, was er geschrieben hat, anderen vorliest: Und so wird aus Eduard, der sich nie dazu berufen gefühlt hatte, ein Dichter.
Ein Klischee besagt, dass Dichter in Russland so populär sind wie in Frankreich Chansonniers, und wie viele Klischees über Russland ist oder zumindest war dieses absolut zutreffend. So verdankt unser Held auch seinen exklusiven Vornamen der Schwäche seines Vaters – eines einfachen ukrainischen Unteroffiziers – für den nicht besonders bekannten Dichter Eduard Bagritski (1895–1934), und wenn man Der Jüngling Sawenko liest, das Buch, aus dem ich die Informationen für dieses Kapitel beziehe, erfährt man ganz erstaunt irgendwo mitten im Satz, dass seine kleinkriminellen Kumpels von Saltow bei aller Wertschätzung für Eduards Gedichte ihn ein bisschen damit aufziehen, dass er bei Blok und Jessenin abschreibe. Ein Dichter-Neuling ist in einer industriellen Vorstadtsiedlung der Ukraine nicht weniger am richtigen Fleck als ein Rapper-Anfänger in der Pariser Banlieue heute. Genau wie dieser kann er sich sagen, es sei seine Chance, um der Fabrik oder der Kriminalität zu entgehen. Und wie dieser kann er auf die Unterstützung seiner Freunde zählen und auf ihren Stolz, wenn er nur ein klein wenig reüssiert; und so wird Eduard nicht nur von Kadik, sondern auch von Kostja und seiner Bande dazu gedrängt, sich zu einem Lyrikwettbewerb anzumelden, der am 7. November 1957 stattfindet, dem sowjetischen Nationalfeiertag und dem Tag, der, wie wir sehen werden, für sein Leben entscheidend sein wird.
Die ganze Stadt versammelt sich an diesem Tag auf dem Dserschinski-Platz, von dem jeder Charkower weiß, dass er von deutschen Kriegsgefangenen gepflastert wurde und der größte Platz Europas sowie der zweitgrößte der Welt hinter dem von Tiananmen ist. Es gibt Paraden, Ballettvorführungen, Reden und Medaillenverleihungen. Die proletarischen Massen haben sich sonntäglich herausgeputzt – ein Anblick, der unsere beiden Dandys zu sarkastischen Bemerkungen herausfordert. Und dann findet im Kino namens Pobeda , »Der Sieg«, der Dichterwettstreit statt, und hinter seiner ganzen Großmäuligkeit hofft Eduard von ganzem Herzen, eine gewisse Sweta möge kommen, um ihm zuzuhören.
Kadik ist zuversichtlich: Sie wird kommen, sie kann nicht nicht kommen. Doch eigentlich ist es alles andere als sicher. Sweta ist kapriziös und unberechenbar. Theoretisch »geht« Eduard mit ihr, aber obwohl er ja sagt, wenn seine Freunde ihn fragen, ob er sie schon »rumgekriegt« habe, ist es nicht wahr: Er hat noch niemanden rumgekriegt. Er leidet darunter, noch keine sexuellen Erfahrungen gemacht zu haben und lügen zu müssen, was ein Mann seiner Meinung nach niemals tun sollte. Er leidet darunter, nicht irgendein Recht auf Sweta zu besitzen und zu wissen, dass sie sich von älteren Jungen angezogen fühlt. Er lei det, mit fünfzehn auszusehen als sei er zwölf, und er setzt all seine Hoffnungen in das Heft, das seine Verse enthält. Er hat sorgfältig ausgewählt, welche er lesen wird; er hat die zahlreichen unter ihnen aussortiert, die von Gangstern, bewaffneten Raubüberfällen und Gefängnissen erzählen, und sich klugerweise auf die Liebesgedichte beschränkt.
Als er
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