Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
Vom Netzwerk:
verborgen, als sie auf den Beginn der Schlacht gewartet hatten. Alle, die über den Bürgerkrieg geschrieben hatten – Generäle, Kriegshistoriker, Journalisten –, waren der Meinung, daß das Schlimmste das Warten gewesen war. Sobald man einmal in der Schlacht war, sagten sie, sei es nicht mehr so schlimm gewesen. Man tat, was man tun mußte, ohne überhaupt darüber nachzudenken, aber vorher, als man darauf wartete, daß sich der Nebel hob und das Signal gegeben wurde, war es beinahe unerträglich.
    »Es ist so kalt«, sagte Annie. Sie setzte sich auf und zerrte mit beiden Händen an der Decke, um sie vom Fußende freizubekommen.
    »Ich hole dir noch eine Decke«, sagte ich, und dann bemerkte ich, daß sie immer noch schlief. Sie zog heftig an der Tagesdecke, und sie kam frei.
    »Bringt Hill hier herauf«, sagte sie und legte sich das Musselin um die Schultern, indem sie es wie ein Cape mit den Händen im Nacken zusammenhielt. »Ich möchte, daß er das hier sieht.« Ihre Wangen waren stark gerötet. Ich fragte mich, ob sie Fieber hatte, wollte sie aber nicht berühren.
    Sie ließ die Tagesdecke los und beugte sich vor, als betrachtete sie etwas. Die Tagesdecke rutschte ihr von den Schultern. »Bringt mir eine Laterne«, sagte sie und fummelte an der Borte der Decke herum.
    Ich fragte mich, ob ich versuchen sollte, sie aufzuwecken. Ihr Atem ging rasch und flach, und ihre Wangen waren feuerrot. Sie klammerte sich in der verzweifelten Darstellung von irgendwas an der Decke fest.
    Ich beugte mich vor, um ihr die Decke wegzunehmen, ehe sie sie zerreißen konnte, und als ich es tat, schaute sie mich direkt mit dem leeren Blick der Schlafenden an und ließ sie los.
    »Annie?« sagte ich leise, und sie seufzte und legte sich hin. Die Tagesdecke war hinter ihrem Nacken zusammengeknüllt, und ihr Kopf war unnatürlich abgewinkelt, und ich zog die Tagesdecke vorsichtig unter ihr hervor und zog die Decke über ihre Schultern hoch.
    »Ich habe geträumt«, sagte Annie. Sie sah mich an, und diesmal erkannte sie mich. Ihre Wangen waren immer noch gerötet, aber nicht mehr so stark wie zuvor.
    »Ich weiß«, sagte ich. Ich hängte die Tagesdecke über das Bettende und setzte mich neben sie. »Willst du mir davon erzählen?«
    Sie setzte sich auf, packte das Kissen gegen das Kopfbrett und und zog sich die Musselintagesdecke über die angewinkelten Knie. »Ich stand nachts auf der Veranda meines Hauses und blickte auf den Rasen. Es war Winter, glaube ich, denn es war kalt, aber es lag kein Schnee, und das Haus war irgendwie verändert. Es stand auf einem flachen Hügel, und der Rasen lag ein ganzes Stück unter mir, am Fuß des Hügels. Ich schaute auf den Rasen hinunter, doch ich konnte ihn nicht sehen, weil es zu dunkel war, aber ich hörte jemand schreien. Es war sehr weit entfernt, deshalb konnte ich nicht ganz sicher sein, was ich hörte; ich spähte auf den Rasen hinunter und versuchte zu erkennen, was dort unten vor sich ging.
    Ich machte das Licht auf der Veranda an, und dadurch wurde es noch schlimmer. Ich konnte überhaupt nichts mehr sehen. Also machte ich es wieder aus und stand dort im Dunkeln, und in diesem Moment rannte jemand gegen mich; es war ein Unionssoldat. Er hatte eine Nachricht für mich, und ich wußte, es war eine gute Nachricht, aber ich fürchtete, wenn ich das Licht anmachte, würde ich nicht sehen können, was auf dem Rasen vor sich ging.
    Dann sah ich ein Licht am Himmel, in großer Entfernung, und ich dachte, oh, wunderbar, jemand hat dort drüben die Verandabeleuchtung angemacht, aber es war etwas anderes, es hüpfte auf und ab, es tanzte, und ich dachte, jemand bringt mir eine Laterne, damit ich die Nachricht lesen konnte, und dann wurde der ganze Himmel rot und grün erhellt, und nun konnte ich den Rasen sehen. Er war übersät mit toten Soldaten.«
    »Waren es Unionssoldaten?« fragte ich.
    »Ja«, sagte sie, »aber sie trugen keine blauen Uniformen. Einige von ihnen trugen lange Unterhosen, rot und weiß gestreift, und manche waren nackt, und ich dachte, wie kalt ihnen sein mußte, wenn sie dort ohne Kleider lagen. Weißt du, wo wir uns befinden?«
    O ja, dachte ich, ich weiß, wo wir uns befinden. Ich hatte sie den ganzen Tag vom Schlachtfeld ferngehalten, aber sie war trotzdem dagewesen. Und wie hatte ich annehmen können, die gewonnenen Schlachten hätten Lee weniger gequält als die verlorenen?
    »Sie trugen keine Uniformen, weil die Konföderierten mitten in der Nacht von Marye’s

Weitere Kostenlose Bücher