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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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nichts von Annie. Nein, falsch:
    Ich wußte, daß ihr Vater gegen Katzen allergisch gewesen war und daß sie aus einer Kleinstadt kam, und ihrem Gesichtsausdruck nach war das alles, was sie mir erzählen würde. Ich nahm es ihr nicht übel. Richard wußte alles über sie. Was nicht auf den Formularen gestanden hatte, die sie im Institut ausgefüllt hatte, oder in dem Krankenbericht, den ihr Arzt geschickt hatte, hatte Richard während seiner Therapiesitzungen herausgefunden, und was immer er wissen mochte, er hatte es benutzt. »Ich sehe, daß dein Vater letztes Jahr gestorben ist. Hast du dich für seinen Tod verantwortlich gefühlt? Wie sah er aus? Hatte er einen weißen Bart? Wie der von Robert E. Lee? Handelt dein Traum nicht in Wirklichkeit davon?«
    Und als wäre das noch nicht schlimm genug, hatte er womöglich den Morgen damit verbracht, die Telefonnummern auf den Formularen anzurufen, die ›nicht unter obiger Adresse gemeldeten nächsten Verwandten‹, und ihren Aufenthaltsort zu erfahren versucht. Kein Wunder, daß sie mir nichts sagen wollte. Ich könnte mich als zweiter Richard erweisen, und für den Fall, daß sie von mir wegliefe, wollte sie sichergehen, daß ich ihr nicht würde folgen können.
    »Broun wird durchdrehen, wenn er wiederkommt«, sagte ich und öffnete mit einem aufmunternden Lächeln die Tür zu meinem Zimmer. »Ich habe der Katze den übriggebliebenen Krabbensalat gegeben.«
    Sie folgte mir ins Zimmer. »Wie hat er geschmeckt?«
    »Nun, ich wollte nicht, daß Broun es herausfindet, ich fand ihn jedenfalls schrecklich. Ich hatte Angst, daß er uns bei dem Empfang noch zwingen würde, davon zu probieren. Jetzt machst du aber, daß du ein Nickerchen machst, falls du müde bist. Soll ich dir irgend etwas holen?«
    Sie rieb sich über die Stirn. »Jeff, ich glaube, ich könnte jetzt doch ein Aspirin vertragen.«
    »Ich schau mal nach, ob ich welche habe«, sagte ich, sehr wohl wissend, daß ich beim überstürzten Aufbruch kein Aspirin eingepackt hatte. Ich hätte ihr beinahe angeboten, welches zu holen, aber da war etwas, das ich erst noch erledigen mußte. Ich schloß die Tür und rief Brouns Anrufbeantworter an.
    Brouns kalifornischer Wetterbericht wiederholte sich, und Richard hatte angerufen.
    »Ich rufe an, um dir zu sagen, daß ich dir nicht böse dafür bin, daß du mich heute morgen von der Polizei hast verhören lassen«, sagte der Onkel Doktor. »Ich weiß, du hast dich bedroht gefühlt, und ich weiß, daß sich Annie bedroht fühlt, aber ich versichere dir, daß das Wohlergehen meiner Patientin mein größtes Anliegen ist.«
    Ein Psychiater muß den Patienten davon überzeugen, daß er bei ihm in besten Händen ist.
    »Weglaufen ist keine Alternative, Jeff. Du mußt Annie zurückbringen, damit sie in geeignete Behandlung kommt. Ich weiß, du ziehst es vor, mir nicht zu glauben, aber ihre neurotischen Phantasien sind gefährlich. Sie hat sich vollkommen von ihren Träumen distanziert. Sie hat mir erzählt, sie träume Robert E. Lees Träume. Sie befindet sich unmittelbar vor Ausbruch einer psychotischen Krise, und sie nach Kalifornien mitzunehmen, heißt die Krise zu beschleunigen.«
    Gut. Er glaubte, wir wären in Kalifornien. Das bedeutete, daß er nicht hier auftauchen würde, während ich weg war. Ich wollte Annie nicht alleinlassen, aber ich mußte alles über das Thorazin herausfinden, das er ihr gegeben hatte. Ich legte auf und ging wieder in Annies Zimmer hinüber. Sie stand am Fenster und schaute zu den Bäumen am Rand des Flusses hinaus.
    »Ich habe kein Aspirin dabei. Ich werde welches holen. Ich habe unterwegs einen Drugstore gesehen.«
    »Du mußt nicht…«
    »Ich muß sowieso noch einmal weg. Ich habe auch vergessen, Rasierzeug einzupacken, und im Gegensatz zu Broun habe ich nicht vor, mir einen Bart wachsen zu lassen. Kann ich dir sonst noch etwas mitbringen?«
    »Nein.« Sie brachte ein leidliches Lächeln zustande. Sie begann wieder fiebrig auszusehen.
    »Bist du sicher, daß du hier zurechtkommst? Ich bin nur ein paar Minuten weg.«
    »Es geht schon«, sagte sie. Sie versuchte ein überzeugenderes Lächeln. Ein Lastwagen rumpelte vor dem Gasthof vorbei, und Annie hob den Kopf und spähte über die Bäume, als hätte sie das leise Donnern der Artillerie gehört.
    Ich nahm den Wagen, kaufte den Rasierer und etwas Aspirin in einem Gemischtwarenladen, und dann fuhr ich ins Zentrum zur Bücherei. Ich hatte sie auf unserem Rückweg zum Gasthof gesehen, ein

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