Lincolns Träume
dreistöckiges Backsteingebäude, das wie eine Schule aussah.
Die Nachschlagewerke waren in einem düsteren Kellerraum untergebracht, der von Neonröhren erhellt war. Das einzige Drogenlexikon, das sie hatten, war total veraltet, und es enthielt nichts darüber, wie man Thorazin aus dem Organismus entfernte, allerdings war zu lesen, daß ein abruptes Absetzen einer hohen Dosis zu Erschöpfung und Benommenheit führen konnte.
Was eine hohe Dosis war, stand nicht darin, und es war auch nicht besonders wichtig, da ich keine Ahnung hatte, wieviel ihr Richard gegeben hatte, aber wie hatte er ihr überhaupt etwas geben können? Das Lexikon beschrieb es als so gefährlich, wie ich angenommen hatte.
Es waren Dutzende von Kontraindikationen und Warnungen angeführt, Schläfrigkeit und Gelbsucht und Ohnmachtsanfälle, und es stand eine doppelt umrahmte Anmerkung dabei: »Plötzlicher Tod, besonders nach Herzstillstand, wurde beobachtet, doch es gibt keine ausreichenden Hinweise, daß ein Zusammenhang zwischen solchen Todesfällen und der Verabreichung dieses Medikaments besteht.« Ich fragte mich, ob man es in den zehn Jahren nach Erscheinen des Buchs geschafft hatte, einen Zusammenhang nachzuweisen, und ob Richard sich etwas daraus machte.
Er hatte genau wissen müssen, was Thorazin bei Annie bewirken konnte, und dennoch hatte er es ihr gegeben. Warum? Es wurde nicht zur Heilung von Geisteskrankheiten benutzt. Es wurde dazu benutzt, sie ruhigzustellen.
Ich konnte unter den aufgelisteten Nebenwirkungen nichts über Kopfschmerzen oder Fieber finden, obwohl gesagt wurde, daß es nach der vierten Woche zu Infektionen kommen konnte. Alle aufgeführten Nebenwirkungen und Warnungen schienen sich auf den Langzeitgebrauch des Medikaments zu beziehen, und die letzte Seite beruhigte mich wieder. Allen Warnungen zum Trotz wurde es bei allen möglichen Erkrankungen empfohlen, vom Schluckauf bis zum Wundstarrkrampf.
Ich fuhr zum Gasthof zurück und fand Annie mit der schwarzen Katze spielend auf der Außentreppe vor. »Meine Kopfschmerzen sind weg«, sagte sie, als ich ihr das Aspirin reichte. »Ich fühle mich schon viel besser.«
Wir aßen in dem Coffeeshop zu Abend, wo wir auch gefrühstückt hatten. »Wie fühlst du dich jetzt?« fragte ich sie, als uns die Serviererin die Rechnung brachte. »Hast du dich den ganzen Tag über benommen gefühlt?«
»Nein.«
»Erschöpft?«
»Nein. Warum?«
»Es könnte sein, daß du immer noch Thorazin im Organismus hast.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte sie. »Unter uns gesagt, ich habe heute genug Kaffee getrunken, um so ziemlich alles aus meinem Organismus herauszubekommen. Du brauchst dir wegen des Thorazins keine Sorgen zu machen.«
»Okay«, sagte ich und nahm die Rechnung. »Dann mache ich mir auch keine.«
Sie stand auf und blickte durch das Restaurant, als jagte es ihr Angst ein. »Dann bleiben als einziges Problem noch die Träume.«
Ich ging zum Tisch zurück, um das Trinkgeld zu hinterlegen. Auf dem Polster der Sitzbank lag ihre Papierserviette. Sie hatte sie in winzige Stücke zerfetzt.
Als wir wieder auf unserer Suite waren, sagte ich: »Ich glaube, ich werde hier ein bißchen an den Druckfahnen arbeiten.« Ich zog einen grünen Sessel nahe ans Fußende des Betts heran und ging in mein Zimmer hinüber, um die Fahnen zu holen. Ich ließ mir Zeit, Brouns lektoriertes Manuskript und ein paar blaue Kugelschreiber mitzunehmen, damit Annie sich zum Schlafengehen fertigmachen konnte, wobei ich die ganze Zeit über pfiff, damit sie wußte, daß ich da war.
Als ich zurückkam, war sie bereits im Bett, in einem langärmligen weißen Nachthemd, und saß mit ineinandergekrampften Händen aufrecht gegen die Kissen gelehnt.
»Handelt Brouns Buch von Antietam?« fragte Annie.
»Mehr oder minder«, sagte ich. »Er macht andauernd Änderungen. Deshalb muß ich hiermit fertig sein, bevor er aus Kalifornien zurück ist, damit er endlich aufhört, damit rumzuspielen.«
»Was mußt du damit machen?«
»Korrekturlesen. Nach Fehlern suchen, Satzfehlern, fehlenden Zeilen, Zeichensetzung, all so was.« Ich rückte den Sessel näher ans Bett, damit ich meine Füße dagegenstemmen konnte.
»Kann ich dir helfen?« Sie sagte es ziemlich ruhig, aber die Knöchel ihrer verkrampften Hände waren weiß. »Bitte. Ich will nicht einfach nur hier sitzen und aufs Einschlafen warten.«
Ich legte die Druckfahnen beiseite. »Sieh mal, ich muß nicht unbedingt gerade jetzt daran arbeiten. Wir
Weitere Kostenlose Bücher