Lincolns Träume
ich bin oder was die Dinge im Traum bedeuten, bis du es mir hinterher erklärst, aber es ist, als würde ich dem Verständnis der Träume allmählich näherkommen.«
»Du meinst, wo sie herkommen?«
»Ich weiß nicht. Es ist… Ich kann es nicht erklären. Sie werden klarer.« Und erschreckender, dachte ich, indem ich ihr Gesicht beobachtete. Was immer sie zu verstehen lernen meint, es macht ihr Angst.
Die Serviererin brachte unser Frühstück und weiteren Kaffee. Ich wartete, bis Annie mit ihren Eiern fertig war, dann fragte ich sie: »Wann träumst du im allgemeinen? Diese Nacht hast du gesagt, du träumst gewöhnlich nicht nach Mitternacht.«
»Zwischen neun und Mitternacht. Deshalb war Richard bei dem Empfang so aufgeregt, weil es nach neun war. Ich glaube, er dachte, ich könnte auf dem Sofa einschlafen oder sowas, aber ich habe ja schließlich keine Narkolepsie. Ich habe nur schlechte Träume.«
»Du meintest an dem Nachmittag, als ich dich von Arlington zurückbrachte, das Thorazin hätte dich vom Träumen abgehalten. Hast du die Träume auch tagsüber?«
»Als die Träume anfingen, schlimm zu werden, dachte ich, wenn ich bis nach Mitternacht aufbliebe, würden sie vielleicht von alleine aufhören, und es funktionierte eine Weile, aber dann fing ich an zu träumen, sobald ich eingeschlafen war, und dann versuchte ich, nachts aufzubleiben und tagsüber zu schlafen, aber das klappte auch nicht.«
»Und das war vor zwei Wochen?«
»Ja.«
»Und du standest in der Zeit unter dem Einfluß von Elavil?«
»Ja. Ich hatte es anderthalb Monate lang genommen.«
»Hielt es Richard für sonderbar, daß du geträumt hast? Antidepressiva sind dafür bekannt, daß sie den Traumzyklus unterdrücken. Hat Richard irgend etwas darüber gesagt?«
»Er war zunächst etwas besorgt darüber, aber er meinte, es könnte eine Weile dauern, bis das Elavil zu wirken begänne, und ich schlief auch viel besser. Ich wachte nicht mehr so oft auf, und ich hatte viel mehr Ruhe.«
»Wie war das, als die Träume schlimmer… klarer wurden?«
»Er meinte, das wäre ein gutes Zeichen. Das, was die Träume auslösen würde, wäre nahe am Durchbruch, und mein Unbewußtes verschaffe sich allmählich Gehör.«
Ich war davon ausgegangen, daß er das Elavil deshalb bei ihr abgesetzt hatte, weil es nicht wirkte oder die Träume sogar noch schlimmer machte. Wenn er es nicht aus diesem Grund getan hatte, warum dann? Annie zufolge hatte er sich wegen der Träume gar keine Sorgen gemacht, aber etwas war geschehen, das ihn so erschreckt hatte, daß er ihr Thorazin gegeben hatte, um sie zu unterbinden.
Die Serviererin unternahm einen neuen Frontalangriff auf unsere Kaffeetassen, und Annie und ich versuchten beide vergeblich, sie davon abzuhalten. »Vielleicht sollten wir besser gehen, ehe sie uns mit diesem Zeug ertränkt.« Ich sah auf meine Uhr. »Es ist Viertel nach zehn. Warum machen wir uns nicht auf die Socken und sehen, ob wir diesen Dr. Barton finden können?«
»Einverstanden«, sagte Annie. Sie faltete ihre Serviette und legte sie auf den Tisch.
»Hast du irgendwas genommen, bevor du zum Institut kamst? Du meintest, dein Arzt hätte dich ins Institut überwiesen. Hat er dich irgendwelche Beruhigungsmittel nehmen lassen?«
Wir standen auf. »Phenobarbital«, sagte sie und nahm ihren Mantel.
»Wußte Richard davon?«
»Ja, er hat sich darüber aufgeregt. Er meinte, kein Mensch benütze noch Barbiturate und bestimmt nicht in Fällen von zu leichtem Schlaf, und meine Behandlung wäre vollkommen falsch gewesen.«
»Und du hast das Phenobarbital nicht weiter genommen?«
»Nein.«
Ich reichte Annie die Karte und holte die Anweisungen aus der Brieftasche, die mir die Frau des Tierarztes gegeben hatte. Im Süden der Stadt, hatte sie gesagt, hinter Hazel Run in der Massaponax Road. Ein Haus mit einer Veranda.
Alle Häuser hatten Veranden, und wir schlängelten uns durch mindestens drei Straßen mit Namen Massaponax, ehe wir es gefunden hatten. Dr. Barton war gerade eben von seiner Runde zurückgekehrt, und er hatte immer noch ein paar Tiere da, um die er sich kümmern mußte, erzählte uns seine Frau. Sie war viel jünger, als sie am Telefon geklungen hatte, kaum älter als Annie. Sie sagte uns, wir könnten gerne nach hinten zum Stall gehen und dort mit ihm sprechen.
Der Veterinär war ebenfalls jung, mit einem dünnen, jungenhaften Schnurrbart, und offensichtlich hatte er nie Akromegalie gehabt. Er war nur einsfünfundsiebzig groß.
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