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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Menschenseele sagen, wo du bist, mein Sohn. Laß McLaws und Herndon mit dem Anrufbeantworter sprechen. Wie kommst du mit den Druckfahnen voran?«
    »Gut. Ich habe Ihren Dr. Barton besucht. Er ist letzten Herbst gestorben, aber ich habe mit seinem Sohn gesprochen. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß sein Vater etwas über ungewöhnliche Träume erzählt hätte. Er will seine Schwester anrufen und sie danach fragen. Oh, damit ich’s nicht vergesse, ich habe noch einen Traum für Ihre Sammlung. Lincoln hatte einen Traum in der Nacht, bevor er starb. Er hat seinem Kabinett davon erzählt. Er träumte, er wäre in einem Boot.«
    »›Ein seltsames und nicht zu beschreibendes Schiff‹«, sagte Broun. »Ich weiß.«
    »Sie kennen den Bootstraum?« sagte ich. »Warum haben Sie mir dann nicht davon erzählt?«
    Am anderen Ende der Leitung entstand eine so lange Pause, daß ich genügend Zeit hatte, an all die Dinge zu denken, die wir uns in der letzten Woche nicht erzählt hatten. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich ihm sagte, daß meiner Meinung nach der Wahrsager recht gehabt hatte und Lee tief in Annies Unterbewußtsein den Bürgerkrieg austrüge. Würde er das ebenfalls als Ammenmärchen bezeichnen?
    »Geht es dir gut?« fragte er. »Gibst du gut auf dich acht?«
    »Ich schlafe jeden Tag bis mittags«, sagte ich, »und machen Sie sich wegen der Fahnen keine Sorgen. Ich habe schon mehr als die Hälfte vom Buch geschafft.«
    »Ich mache mir keine Sorgen wegen der Fahnen«, sagte er.
    Nachdem ich aufgelegt hatte, ging ich hinüber und weckte Annie. Wir fuhren zum Mittagessen nach Bowling Green hinunter. Annie zeigte nichts von der Anspannung, die ich tags zuvor an ihr bemerkt hatte, und ihre Wangen hatten wieder eine normale Färbung angenommen. Als wir wieder im Gasthof waren und oben in ihrem Zimmer Fahnen lasen, ich im grünen Sessel und sie im Schneidersitz auf dem Bett, war sie entspannt und aufmerksam.
    »Warum machst du nicht, daß du ins Bett kommst, Jeff?« sagte sie kurz nach elf. »Du hast letzte Nacht nicht viel geschlafen. Ich glaube nicht, daß ich etwas träumen werde.«
    »Okay«, sagte ich. »Ruf nach mir, wenn du mich brauchst.«
    Ich ließ die Tür zu ihrem Zimmer offen und das Licht neben dem Bett an. Ich zog die Schuhe aus und machte es mir mit einem Buch bequem, das ich in Bowling Green gekauft hatte. Es war ein populärer chronologischer Bericht von Lincolns Todestag, aber er enthielt eine ausführliche Beschreibung der Kabinettssitzung.
    Lincoln hatte seinen Bootstraum vor Beginn der Sitzung erzählt, während man noch auf Stanton wartete. Grant sagte, er mache sich Sorgen wegen Sherman, und Lincoln sagte ihm, das brauche er nicht, denn er habe ein Zeichen bekommen, und erzählte ihm seinen Traum. Er sagte, er habe den gleichen Traum vor jedem Sieg im Krieg geträumt, und nannte Antietam, Gettysburg und Stone River.
    Grant, der nicht an Träume glaubte, sagte, Stone River entspräche nicht seiner Vorstellung von einem Sieg, und ein paar mehr Siege dieser Art würden sie den Krieg verlieren lassen, und Lincoln sagte: »Es muß etwas mit Sherman zu tun haben. Ich kann mir keine andere wichtige Begebenheit vorstellen, die sich gerade jetzt ereignen sollte.«
    Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel nach zwölf. Ich machte das Licht aus. Was, wenn Grant an Träume geglaubt hätte? Hätte er die lauernde Gefahr erkennen und Vorkehrungen treffen können, die John Wilkes Booth aufgehalten hätten? Er glaubte nicht an Träume. Er wußte ein Ammenmärchen zu erkennen, wenn jemand ihm eins erzählte, selbst wenn es Lincoln war. Aber ich fragte mich, ob er hinterher jemals von der Kabinettssitzung geträumt hatte?
    »Mein Haus brennt«, sagte Annie.
    Ich machte das Licht an. Sie stand in ihrem weißen Nachthemd in der Tür, die Druckfahnen in der Hand. Sie kam zu mir ans Bett und reichte sie mir. »Er ist tot, nicht wahr?« sagte sie, und die Tränen strömten über ihr blickloses Gesicht. »Nicht wahr?«

 
8
     
Lee und Traveller paßten gut zusammen. Wenn Lee größere Ausdauer und mehr Temperament verlangte, als das Durchschnittspferd zu geben hatte, so besaß Traveller zuviel Ausdauer und Temperament für den durchschnittlichen Reiter. Er ließ sich nur schwer zügeln, wollte kräftig bewegt werden und ging einen unbequemen, hohen Trab. Als Robert Lee ihn für seinen Vater 1862 nach Fredericksburg hinunterreiten mußte, beklagte er sich: »Ich glaube, ich lüge nicht, wenn ich sage,

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