Lincolns Träume
Er trug ein blaues Hemd mit aufgesetzten Taschen, Jeans und hohe Stiefel, die ihm das Aussehen eines Offiziers der Unionsarmee gaben.
»Was kann ich für Sie tun?« sagte er, mit einer rotbraunen Stute mit einem verletzten Fuß beschäftigt.
»Ich bezweifle, daß Sie etwas für mich tun können«, sagte ich. »Ich habe mich geirrt. Ich habe nach einem Dr. Barton gesucht, der an Akromegalie leidet.«
»Das war mein Vater«, sagte er und hob den linken Hinterfuß der Stute an. »Ich habe Mary gesagt, ich wette, daß Sie den sprechen wollten, als sie mir sagte, daß sie Dr. Stones Namen erwähnt hätten.« Er ließ den Fuß los. »Dad starb vergangenen Herbst an einem Herzanfall. Worüber wollten Sie mit ihm sprechen?«
»Ich arbeite für Thomas Broun.« Der Tierarzt nickte, als hätte er schon von ihm gehört. »Er schreibt an einem Buch über Abraham Lincoln. Lincoln hatte Akromegalie.«
»Ich weiß«, sagte er. »Dad hat sich immer für andere Leute interessiert, die Akromegalie hatten, besonders für berühmte Leute. Edward den Ersten, den Pharao Echnaton, besonders aber Lincoln. Ich glaube, weil er in den letzten Jahren Lincoln ähnlich zu werden begann. So ist das nun mal, wissen Sie, mit der Akromegalie. Sie bekommen alle große Ohren und eine große Nase und diese breiten Hände.«
Er hob jeden einzelnen Fuß der Stute hoch, einen nach dem andern, legte seine Hand flach gegen die Sohle und setzte den Fuß dann wieder ab, damit die Stute ihr Gewicht darauf verlagern konnte. Als er zum rechten Vorderfuß gelangte, hielt die Stute den Fuß länger als eine Minute über dem Boden und setzte ihn dann vorsichtig auf. Annie hatte sich auf einen Heuballen gesetzt und beobachtete ihn.
»Broun interessiert sich hauptsächlich für Lincolns Träume«, sagte ich.
»Der Bootstraum, wie?« Er hob den Vorderfuß hoch, betrachtete ihn und setzte ihn wieder ab. Diesmal stellte ihn die Stute fest auf den Boden. »Dad war immer fasziniert davon.«
»Bootstraum?«
»Yeah. Lincoln träumte ihn immer wieder.« Er wandte sich wieder den Füßen der Stute zu, hob sie an, setzte sie ab. Als er den rechten Vorderfuß losließ, setzte ihn die Stute auf, hob ihn aber sofort wieder hoch und hielt ihn weiter über dem Boden. »In dem Traum befand er sich in einem Boot, das auf eine dunkle, verhangene Küste zutrieb. Er träumte ihn immer in der Nacht vor einer Schlacht: Bull Run, Antietam, Gettysburg. Er träumte ihn auch in der Nacht, bevor er ermordet wurde.«
Ich sah Annie an, weil ich mir Sorgen machte, welche Auswirkungen all dieses Gerede über Träume auf sie haben würde, doch sie schien sich mehr für die Stute als für unser Gespräch zu interessieren.
»Hat ihr Vater jemals irgendwelche Träume erwähnt?«
Er zog ein kleines gekrümmtes Messer aus einer Hemdtasche hervor. »Über Boote? Ich glaube nicht. Warum?«
»Broun glaubt, Lincolns Träume könnten etwas mit seiner Akromegalie zu tun gehabt haben. Hat er irgendwann einmal erwähnt, daß die Akromegalie ihn dazu veranlassen würde, viel zu träumen?«
»Das ist eine interessante Theorie.« Er dachte eine Minute lang nach. »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß Dad jemals irgendwelche Träume erwähnt hat. Falls sie sich ein wenig mit Akromegalie auskennen, dann wissen Sie, daß sie mit Kopfschmerzen und Depressionen einhergeht. Mein Vater war ein sehr unglücklicher Mann. Er sprach nicht viel, zumal nicht über seine Akromegalie. Er erzählte mir ebensoviel über seine Symptome, wie es diese Stute tut. Die einzigen Gelegenheiten, wo ich ihn darüber sprechen hörte, war in Verbindung mit Berühmtheiten wie Lincoln oder Echnaton. Dem Ende zu wurde das bei ihm beinahe zur Obsession.«
Er hob den rechten Vorderfuß hoch und schnitt die Unterseite des Hufs mit der gekrümmten Klinge aus. »Wo wir schon von Echnaton sprechen, die Ägypter konnten sich wirklich für Träume begeistern«, sagte er. »Sie schrieben sie auf, engagierten Wahrsager, um sie interpretieren zu lassen und glaubten, daß ihre Träume die Zukunft vorhersagen konnten. Es könnte etwas darüber geben…« Er wischte die Späne weg und betrachtete die Unterseite des Hufs. »Nein, ich bezweifle, daß es etwas über Echnatons Träume gibt. Der nächstbeste Pharao, Ramses, hat beinahe alle Spuren von ihm verwischt. Warf alle seine Statuen um, ließ seinen Namen auskratzen, wo er ihn nur finden konnte, verbrannte alles.«
»Woher weiß man dann, daß er Akromegalie hatte?«
»Man weiß es nicht
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