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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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genau«, sagte er. Er machte sich mit der Messerspitze am Huf zu schaffen und runzelte die Stirn. Er ließ den Fuß los und beobachtete, wie die Stute ihn auf den Boden setzte. Sie verlagerte ihr Gewicht darauf, ohne zu zögern. »Es war nur ein Steckenpferd von Dad. Es gibt eine Menge Wandmalereien und Statuen, die Ramses übriggelassen hat. Er ist darauf mit verlängerten Ohren und breiter, flacher Nase abgebildet, und die wenigen Aufzeichnungen, die es über ihn gibt, erwähnen seine Größe. In einer der Hieroglyphenschriften wird er auch als melancholisch bezeichnet, was, wie ich bereits sagte, eines der Symptome der Akromegalie darstellt.«
    »Oder des Wissens, daß der nächste Pharao alles tun wird, damit einen die Nachwelt vergißt«, sagte ich.
    Er grinste. »Richtig. Es ist nichts als ein Glücksspiel, Vermutungen darüber anzustellen, welche Krankheiten die Leute früher hatten. Oder darüber, welche Krankheiten sie heute haben, was das betrifft.« Er faßte die Stute am Zaumzeug und führte sie neben uns auf und ab, wobei er genau aufpaßte, welchen Fuß sie bevorzugte.
    »Bei Tieren ist es wirklich ein Ratespiel. Sie können einem nicht sagen, wo es weh tut oder was sie zu haben glauben. Wie diese Stute hier«, sagte er. Er führte sie immer wieder im Kreis herum. »Sie hat einen wehen Fuß, wahrscheinlich eine beschädigte Hufhaut oder eine Verletzung von einem Hufnagel, aber es könnte ebensogut Laminitis oder ein Hühnerauge oder etwas ganz anderes sein. Ich finde die Entzündung nicht, also kann ich es nicht sagen. Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, besteht darin, sie sich selbst zu überlassen, bis es wirklich schlimm geworden ist. Dann kann man die Infektion einfacher finden – der Huf reagiert empfindlich auf Berührungen, sie wird ihn nicht belasten können, und sie wird eine Menge andere Symptome entwickeln. Das Problem dabei ist, daß es darin zu spät sein könnte, um ihr noch zu helfen, besonders wenn sie sich mit einem Nagel verletzt hat. Ich muß es jetzt herausfinden.«
    »Was ist, wenn sie es nicht herausfinden?« sagte Annie.
    »Dann gebe ich ihr eine Tetanusspritze und warte, bis ich es herausfinden kann, aber irgendwann schaffe ich es. Die Hinweise auf das, was vor sich geht, sind vorhanden. Man muß in diesem Stadium nur ein bißchen genauer hinschauen, um sie zu erkennen.« Er brachte die Stute zum Stehen, band den Zügel sorgfältig an einem Geländer fest und hob erneut den rechten Vorderfuß an. »Bei Tieren hat man entweder zu viele oder nicht genug Symptome, und das eine ist so schlecht wie das andere. Letzte Woche hatte ich einen Braunen hier, der alle Symptome aus dem Lehrbuch hatte und noch ein paar dazu. Mußte aus einem Dutzend Krankheiten aussortieren, bis ich die richtige hatte. Aber für eine richtig harte Nuß bin ich immer zu haben, Sie nicht auch?«
    Er schabte den angebackenen Schmutz vom Huf, wobei er die Messerschneide hochkant stellte, um nahe an das Hufeisen heranzukommen. Das brachte uns alles nicht weiter, aber der Stall war warm und duftete nach trockenem Heu, und Annie machte den Eindruck, als dächte sie über den wehen Fuß der Stute nach, und nicht über jenes andere Pferd mit den abgeschossenen Beinen. Dr. Barton drang mit seinem Messer in den Huf ein, und die Stute schüttelte den Kopf, als wollte sie damit sagen, daß er aufhören solle. Annie stand auf und ging zu ihr hinüber, faßte den Zügel dicht unter dem Kinn und streichelte ihren Hals.
    »Ihr Vater sprach niemals über seine Träume, nicht einmal in Verbindung mit Lincolns Bootstraum?«
    »Nicht mit mir. Letztes Jahr zog er nach Georgia um, als er Probleme mit dem Herzen bekam. Wußten Sie, daß Akromegalie mit hohem Blutdruck und Herzbeschwerden einhergeht?«
    »Nein, das wußte ich nicht.«
    Er hörte mit dem Schaben auf und setzte den Fuß des Pferdes ab. »Dad könnte mit meiner Schwester über seine Träume gesprochen haben. Sie war immer sein Liebling, und er hat mit ihr häufiger gesprochen als mit uns anderen. Möchten Sie, daß ich sie anrufe?«
    »Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, sagte ich und schrieb ihm unsere Telefonnummer vom Gasthof auf. »Fragen Sie sie, ob er irgendwelche Träume gehabt hat. Sie müssen nicht unbedingt von Booten handeln.«
    »Boote«, sagte er nachdenklich, faltete das Stück Papier und steckte es in seine Tasche. Die Stute hatte sich beim Stoßen mit dem Kopf mit der Mähne im Zaumzeug verheddert. Annie zog ihre Stirnlocke darunter hervor,

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