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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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daß es weniger anstrengend und ermüdend gewesen wäre, wenn ich die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt hätte.«
     
    ES DAUERTE FAST EINE STUNDE, bis ich sie ins Bett zurückgebracht hatte und sie mehr oder weniger friedlich schlief. Ich hatte versucht, sie aufzuwecken, auch wenn ich irgendwo gelesen hatte, man sollte Schlafwandler nicht wecken – oder vielleicht war das auch eine von Richards Theorien –, aber ich konnte nicht anders.
    »Annie!« sagte ich und faßte sie bei den Händen. Sie waren heiß. »Wach auf, Annie!«
    »Ist er tot?« fragte sie, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht und sammelten sich unterm Kinn.
    Ist er tot? Wer? General Cobb? Er war bei Fredericksburg gefallen, doch ich war nicht davon überzeugt, daß wir uns noch dort befanden. Wir könnten sonstwo sein. Armistead und Garnett waren bei Gettysburg gefallen, A. P. Hill bei Petersburg zwei Wochen vor der Kapitulation. Es konnte sogar Lincoln sein.
    »Wer, Annie?«
    Ihre Nase lief von all den Tränen, aber sie machte keinerlei Anstalten, sie abzuwischen. Ich führte sie behutsam an der Hand ins Bad und nahm ein Kleenex. »Erzähl mir, was passiert ist«, sagte ich leise und putzte ihr die gerötete Nase. »Kannst du mir das sagen?«
    »Mein Haus brennt.«
    Ich tupfte ihre Wangen unbeholfen mit dem aufgeweichten Kleenex ab. »Wie sieht das Haus aus, Annie?« fragte ich und putzte noch einmal ihre Nase.
    Sie starrte unsere Spiegelbilder an. »Er ist tot, nicht wahr?«
    Ich brachte sie in ihr Bett zurück und deckte sie zu. Sie hatte aufgehört zu weinen, aber ihre Wimpern hingen voller Tränen. Das Kleenex war durch und durch naß, aber ich putzte ihr noch einmal die Nase und packte sie gut ein.
    Ich blieb eine Weile neben dem Bett stehen, weil ich dachte, daß sie aufwachen würde, aber sie tat es nicht. Ich hob den Freeman neben dem Sessel vom Boden auf und versuchte, ein brennendes Haus zu finden. Während der Schlacht von Antietam hatte Longstreet in Sharpsburg einigen Frauen und Kindern dabei geholfen, ihre Habseligkeiten aus einem brennenden Haus herauszuholen, doch Lee war nicht dabeigewesen. In den Wochen vor der Schlacht von Fredericksburg war der größte Teil der Stadt abgebrannt, aber niemand war dabei umgekommen – abgesehen von siebzehntausend Soldaten.
    »Ich hatte wieder einen Traum«, sagte Annie ohne jede Spur von Tränen in ihrer Stimme. Sie setzte sich im Bett auf. »Mein Haus hat gebrannt.« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie ihre eigenen Worte widerlegen wollte. »Es war das gleiche Haus wie in den anderen Träumen, aber es war nicht mein Haus, und es war auch nicht das von Arlington.«
    »Wem hat es gehört?«
    »Ich weiß nicht. Wir standen unter dem Apfelbaum und sahen zu, wie es brannte, und ein Reiter reichte mir eine Botschaft. Ich konnte sie nicht öffnen, weil ich Handschuhe trug, deshalb reichte ich sie jemandem an meiner Seite. Es war der Angestellte hier vom Gasthof. Er öffnete die Botschaft mit einer Hand. Mit seinem anderen Arm stimmte etwas nicht. Als er die Botschaft geöffnet hatte, sah ich, daß es eine Schachtel Kerzen war.«
    Ich klappte den Freeman zu. Ich wußte jetzt, wessen Haus gebrannt hatte. »Einer von Lees Adjutanten setzte sein Leben aufs Spiel, als er Lee eine Schachtel Kerzen brachte, weil dieser Schwierigkeiten hatte, beim Licht des Lagerfeuers die Lageberichte zu lesen«, sagte ich. »Es ist das Haus des Richters, das brennt. Wir befinden uns in Chancellorsville.«
    »Es ist aber keine Schachtel Kerzen«, sagte Annie und sah mich genauso an, wie sie ihr eigenes Bild im Spiegel angesehen hatte. »Es ist eine Botschaft.«
    »Die Botschaft betrifft Stonewall Jackson«, sagte ich. »Lees rechte Hand. Er wurde während der Schlacht um Chancellorsville verletzt. Sein Arm wurde amputiert.«
    »Ich habe Jackson eine Nachricht zurückgeschickt, nicht wahr?«
    »Ja«, sagte ich. Ich wußte auch, was in dem Brief stand. »Bestellen Sie Jackson von mir herzliche Grüße«, hatte Lee geschrieben. »Sagen Sie ihm, er soll sich beeilen und gesund werden und, sobald er kann, zu mir zurückkommen. Er hat seinen linken Arm verloren, aber ich habe meinen rechten verloren.«
    Annie lehnte sich gegen die Kissen zurück und rieb sich das Handgelenk, als täte es ihr weh. »Aber er wird sich nicht wieder erholen, oder? Er wird sterben.«
    »Ja«, sagte ich.
    Sie legte sich augenblicklich hin, fügsam, als wäre sie ein Kind, das versprochen hatte, nach einer Gutenachtgeschichte einzuschlafen, und

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