Lincolns Träume
sein Name war an seinem Ärmel befestigt.«
Sie umklammerte den Gürtel ihres Morgenmantels so, wie sie an jenem ersten Abend das afrikanische Veilchen in Brouns Wintergarten umklammert hatte. »Ich beugte mich vor, um den Zettel abzumachen, aber als ich das tat, war es kein blauer Uniformärmel, sondern ein weißer. Und dann sah ich, daß es kein toter Soldat war, sondern ein Mädchen in einem weißen Nachthemd, das unter dem Apfelbaum eingeschlafen war.«
Sie fragte mich nicht danach, wo das gewesen war oder was der Traum bedeutete. Sie blieb eine Weile im Sessel sitzen und schaute ins Zimmer, als könnte sie immer noch den Apfelbaum sehen und das Mädchen, das darunter eingeschlafen war.
»Jeff, es tut mir leid, daß ich wieder schlafgewandelt bin«, sagte sie. »Vielleicht solltest du mich ans Bett fesseln.« Sie zog den Mantel aus und legte sich hin, die Arme steif neben sich ausgestreckt, als wollte sie sich dazu zwingen, im Schlaf nicht mehr umherzugehen.
In dieser Stellung blieb sie die restliche Nacht über liegen. Ich wußte nicht, ob sie schlief. Sie bewegte sich nicht, als ich den Freeman vom Boden aufhob und in mein Zimmer ging, um die übrigen drei Bände zu holen, als ich die Verbindungstür zu meinem Zimmer abschloß und den Schreibtisch davorstellte und auch dann nicht, als ich die Lampe zu dem grünen Sessel hinüberstellte, damit ich in ihrem Licht lesen konnte.
Es gab nicht viele Textverweise auf Annie Lee, obwohl sie Lees Lieblingstochter gewesen war. Ich schlug den letzten zuerst nach. »Ich hatte immer vor, zu fahren, und ich denke, wenn ich es zustande bringen soll, habe ich keine Zeit zu verlieren«, hatte er 1870 an seinen Sohn Rooney geschrieben. »Ich will Zeuge sein von Annies stillem Schlaf.« Sie war während des Krieges in White Sulphur Springs, North Carolina, gestorben. Sie war dreiundzwanzig Jahre alt.
»Er war ein guter Mensch«, hatte Annie gesagt. Seine Soldaten liebten ihn, seine Kinder liebten ihn, und er hatte sie alle dem Krieg opfern müssen, sogar seine Lieblingstochter. Annie Lee war an einem Fieber gestorben, doch sie war ebenso ein Opfer des Krieges wie jeder beliebige Soldat, der jung und weit von zu Hause weg gestorben war. Wenigstens war Lee der Trost geblieben, zu wissen, wo sie begraben lag. Er hatte ihr Grab 1870 besucht. »Ich will Zeuge sein von Annies stillem Schlaf.«
Armer Mann. Als er den Brief mit der Nachricht von ihrem Tod bekommen hatte, hatte er nach außen hin keinerlei Reaktion gezeigt. Er hatte den Brief durchgelesen und hatte sich anschließend mit seinem Adjutanten darangemacht, die dienstliche Korrespondenz zu beantworten. Aber als der Adjutant ein paar Minuten später in das Zelt zurückgekommen war, fand er Lee weinend vor.
Es war vier Uhr, ein Uhr in Kalifornien. Ich rief Broun im Westgate in San Diego und unter seiner Los-Angeles-Nummer an. Ich rief die Telefonauskunft an und besorgte mir die Nummer von Dreamtime. Nirgendwo nahm jemand ab.
Kurz vor der Dämmerung stand Annie vom Bett auf und zog ihren blauen Morgenmantel an. Ich streckte eine Hand aus, um sie zurückzuhalten, weil ich fürchtete, sie würde wieder schlafwandeln. Sie ging zum Fenster hinüber. »Hast du herausgefunden, was der Traum bedeutet hat?« fragte sie.
Ich erzählte ihr von Annie Lee. »Sie starb im Jahre 1862«, sagte ich. »Unmittelbar vor Fredericksburg.«
»Willie Lincoln starb auch 1862. Sie war Lees Lieblingstochter«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Woran ist sie gestorben?«
»Keine Ahnung. An irgendeinem Fieber.«
»Armer Mann«, sagte sie, und ich fragte mich, welchen Mann sie meinte, oder ob sie es wüßte, wenn ich sie danach fragen würde.
Wir verbrachten den Morgen damit, daß wir einzuschlafen versuchten, gaben es dann auf und gingen schließlich los, uns die letzte Touristenattraktion des Ortes ansehen, Hugh Meyers Apotheke. Wir betrachteten versilberte Pillen und braune gläserne Laudanumflaschen und handgeschriebene Rezepte zur Behandlung von Fieber.
Den Rest des Tages verbrachten wir in der Bibliothek. Annie machte sich über Lincoln Notizen. Ich las Lees Briefe und versuchte herauszufinden, woran Annie gestorben war. Niemand schien es zu wissen. Jedenfalls fand ich etwas über das Huhn. Es hieß Little Hen. Es war eines Tages in Lees Zelt marschiert, und Lee hatte es länger als ein Jahr behalten. Es hatte täglich ein Ei unter Lees Pritsche gelegt und auf Travellers Rücken gesessen, was die Soldaten amüsiert
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