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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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Es sollen diese Nacht fünfzehn Zentimeter Schnee bei uns fallen. Hält man das für möglich? Im April.«
    »Wo sind wir stehengeblieben?« sagte Annie, nachdem sie gegangen war.
    »Seite sechs-sechsundfünfzig«, sagte ich. »Wo es am Anfang heißt: ›Nein, sagte Nelly.‹ Seite sechs-sechsundfünfzig.« Ich teilte das Manuskript in zwei Stapel, von denen der eine nur etwa fünfzig Seiten dick war. Wir hatten es fast durch, und was sollten wir dann in der Zeit anfangen, während der wir auf die Träume warteten?
    »Nein«, sagte Nelly, (las Annie) und Ben versuchte wach zu werden, um ihr zu helfen, aber das war so, als wollte er sich unter dem Pferd hervorrollen, das auf Malachi gefallen war.
    »Er ist tot«, sagte Mrs. Macklin. Sie klang ungeduldig, so als ob Nelly eine Dummheit gemacht hätte.
    »Ich weiß, daß er tot ist«, sagte Nelly, und die Hilflosigkeit in ihrer Stimme machte Ben vollends wach. Er setzte sich im Bett auf. Schmerz loderte in seinem Fußknöchel auf; er rang nach Atem und versuchte, nicht zu schreien, gelähmt von Schmerzen.
    Er wandte den Kopf und sah Nelly an. Sie saß auf einem Holzstuhl neben Calebs Bett. Sie hielt Calebs Hand, behutsam, so wie sie es jede Nacht getan hatte, seitdem er eingeliefert worden war. Seine Finger umklammerten ihre, und seine Augen waren geschlossen, doch er sah nicht so aus, als ob er schliefe. Er mußte bereits die ganze Nacht tot gewesen sein.
    »Du kannst nichts mehr für ihn tun«, sagte Mrs. Macklin gereizt und packte Nelly am Handgelenk.
    »Lassen Sie sie los«, sagte Ben und mußte sogleich rasch hintereinander ein- und ausatmen, damit ihn der Schmerz nicht überwältigte. »Lassen Sie sie sitzen.«
    Mrs. Macklin ignorierte ihn. »Unten liegen zwanzig halbtote Männer, und du sitzt hier herum«, sagte sie vorwurfsvoll. »Laß seine Hand los!« Nelly immer noch am Handgelenk haltend, zerrte sie sie hoch, und Calebs Arm hob sich zackig, als versuchte er zu salutieren.
    »Nein«, sagte Nelly verzweifelt, »bitte«, und Ben stürzte sich auf Mrs. Macklin, aber er erreichte sie nicht. Ein Schuß traf ihn wieder in den Fuß, schlimmer als beim ersten Mal, und er dachte, daß sie ihn diesmal unter dem Knie abgeschossen haben mußten.
    Als er seine Augen wieder öffnete, sah er Nelly immer noch neben dem Bett sitzen, aber der Leichnam des jungen war weg, und jemand hatte eine graue Decke über den Drillich gelegt.
    »Es tut mir leid«, sagte Ben.
    Nelly rieb sich das Handgelenk. Es sah rot und geschwollen aus. »Wissen Sie noch, was er erst gestern zu mir gesagt hat?« sagte sie. »Er sagte, daß er wundervolle Träume hätte, so lange wie ich seine Hand halten würde.« Sie rieb über das Handgelenk und verstärkte die Rötung.
    »Sie haben getan, was Sie konnten«, sagte Ben. »Jetzt träumt er jedenfalls nicht mehr«, und er wollte ihre Hand nehmen und sie an sich drücken, doch er wußte, daß er wieder abgeschossen werden würde, ehe er die Bettkante erreicht hatte.
    »Ich habe mein Versprechen gebrochen«, sagte sie.
    »Mein Freund Toby Banks, von dem ich Ihnen erzählt hab, hat seiner Mutter versprochen, er käm’ zu ihr zurück ohne auch nur einen Kratzer. Manche Versprechen, die… Sie haben getan, was Sie konnten. Als er…« Er brach ab und suchte nach einem anderen Ausdruck für ›tot‹, »als er ins Jenseits eingegangen war, konnte er sowieso nicht mehr fühlen, ob Sie sie immer noch hielten.«
    »Versprechen Sie mir, daß Sie sich nicht wieder verpflichten werden, wenn Ihr Fuß besser geworden ist«, sagte sie.
    »Ich versprech’s«, sagte er, aber sie blieb weiter auf dem Bett sitzen und rieb sich das Handgelenk.
    Nach einer Weile kam Mrs. Macklin herein und verlangte, Nellys Handgelenk zu sehen. »Nein«, sagte Nelly.
    »Es ist ganz geschwollen«, sagte Mrs. Macklin verärgert. »Ich bin Krankenschwester. Es ist meine Pflicht, mich darum zu kümmern.«
    Nelly stand auf und warf dabei den Stuhl um. »Erzählen Sie mir nichts von Pflicht«, sagte sie und wiegte den Arm wie ein Baby an ihrer Brust, »nicht, wenn Sie mich nicht meine tun lassen.«
    Annie hörte auf zu lesen. »Ich will nach Arlington fahren«, sagte sie.
    Das hatten wir schon einmal gehabt. »Es gibt keinen Grund, nach Arlington zu fahren. Wir wissen, was die Träume bedeuten. Lee machte sich Vorwürfe wegen Annies Tod. Vielleicht glaubte er, es wäre nicht passiert, wenn Annie zu Hause gewesen wäre, wenn sie Arlington nicht hätten verlassen müssen. Wir wissen sogar, um

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