Lincolns Träume
ich sie jemals gesehen hatte. Ihr kurzes Haar war vom Schlaf verwirrt. Sie sah wundervoll aus. »Das Huhn war auf der Veranda von meinem Haus. Es tat so, als gehörte es ihm. Hatte Lee ein Huhn?«
»Er hatte ein Pferd«, sagte ich. »Er hatte eine Katze. Ich weigere mich zu glauben, daß er ein Huhn hatte. Mir scheint, daß dieser Traum dein eigener ist, hervorgerufen durch das Südstaaten-Brathähnchen, das wir zum Abendessen hatten. Ich habe dir ja gesagt, daß du durch mich schlechte Träume bekommst.«
Sie legte sich wieder ins Bett. Ich legte die Kette vor die Tür, schob den Sessel daneben und balancierte das Buch auf der Lehne aus. Ich korrigierte eine Weile Fahnen, las eine Weile Freeman, döste eine Weile, doch der Tatsache zum Trotz, daß ich während der letzten beiden Nächte vielleicht gerade drei Stunden Schlaf gehabt hatte, konnte ich nicht schlafen. Aber das war ganz gut so.
Annie erhob sich vom Bett, zog den Morgenmantel an, verknotete den Gürtel, alles so ruhig und normal, daß ich dachte, sie sei wach. Sie schob den Sessel aus dem Weg. Das Buch plumpste auf den Teppichboden, wobei es weniger Lärm machte, als ich gedacht hatte. Sie griff nach der Kette.
»Wo willst du hin, Annie«, sagte ich ruhig.
»Meine Schuld«, sagte sie und löste die Kette.
»Es ist nicht deine Schuld. Laß uns weiterschlafen.« Ich hakte die Kette ein und führte sie behutsam zum Bett zurück, wobei ich ihren Arm kaum mit der Hand berührte. Sie sträubte sich nicht. Sie blieb neben dem Bett stehen und zog den Morgenmantel aus.
»Was ist mit ihnen passiert?« fragte sie.
Mit den Hühnern? Tom Tita? Oder mit all den blondhaarigen Jungen?
»Wir werden sie finden«, sagte ich. Sie setzte sich aufs Bett und legte sich hin. Ich deckte sie zu. Eine Viertelstunde später wiederholten wir die ganze Prozedur. Als ich sie wieder ins Bett zurückgebracht hatte, klemmte ich den Sessel unter die Türklinke und wartete.
Diesmal dauerte es eine halbe Stunde, dann stand sie wieder auf, zog den Mantel an, verknotete den Gürtel und versuchte den Sessel wegzuziehen. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Sie drehte sich um und sah mich an. »Was ist mit ihnen passiert?« sagte sie verärgert, als hätte ich sie vor ihr versteckt.
»Wir werden sie finden«, sagte ich und machte mich wieder auf den Weg zum Bett, meine Hand leicht auf ihren Arm gelegt, doch auf halbem Weg blieb sie stehen und machte zwei Schritte auf das Fenster zu.
»Meine Schuld«, sagte sie leise. »Meine Schuld.«
Wir waren wieder in Gettysburg, im Wald, der wie ein Backofen war, und sahen zu, wie sich die Soldaten von Pickett’s Charge zu uns durchschlugen.
»Meine Schuld«, flüsterte sie, machte ein paar schwankende Schritte nach vorne, sank auf die Knie nieder und barg das Gesicht in den Händen.
»Was ist los, Annie?« sagte ich und hockte mich neben sie. »Ist es Gettysburg? Ist es Pickett’s Charge?«
Sie nahm ihre Hände vom Gesicht, setzte sich auf die Fersen zurück und starrte blind auf was auch immer.
»Kannst du aufwachen, Annie? Kannst du mir erzählen, was du träumst?«
Sie streckte ihre Hand nach etwas vor ihr auf dem Boden aus, dann zog sie sie wieder zurück. »Sie ist tot, nicht wahr?«
Sie kniete dort mehr als eine Stunde lang, und ich hockte neben ihr, bis ich einen Krampf in den Beinen bekam und meine Position verändern mußte, und sprach mit ihr, versuchte sie aufzuwecken und ins Bett zurückzubekommen. Schließlich hob ich sie hoch und trug sie, wobei ich mir ihre Arme um den Nacken legte, damit sie nicht zurückfiel, und als ich sie im Bett hatte, löste ich sie wieder.
»Was ist mit ihnen passiert?« fragte sie, als ich sie zudeckte.
»Ich weiß nicht«, sagte ich, »aber ich werde es herausfinden. Das verspreche ich.«
Fünf Minuten später stand sie wieder auf, zog den Mantel an und ging zur Tür.
»Annie, du mußt endlich aufwachen«, sagte ich müde.
Sie hörte auf, an dem Sessel zu zerren, richtete sich auf, sah die Tür an, dann mich. »Habe ich es wieder getan? War ich draußen?«
»Du hast es verdammt hartnäckig versucht«, sagte ich. »Wo warst du? In Gettysburg?«
»Nein«, sagte sie und setzte sich in den Sessel. »Ich war wieder in Arlington. Es hatte geschneit, wie im ersten Traum, und ich suchte nach dem Kater. Er war draußen unter dem Apfelbaum, und ich ging hinaus, um ihn zu holen, und da trat ich auf etwas. Es war ein Unionssoldat. Er lag mit dem Gesicht nach unten, mit dem Gewehr unter sich, und
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