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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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so daß Ben sie sehen konnte. Es war die Frau, die seinen Fuß beim Herauftragen angestoßen hatte.
    »Laß das jemand anders machen!« schnauzte sie. »Es kommt gleich eine neue Wagenladung rein, und du flirtest hier mit dem Mannsvolk.« Sie starrte Caleb an. »Du hast heute nacht das ganze Haus mit deinem Schreien aufgeweckt.«
    Er grinste sie an. »Ich hab geträumt, Miss Nelly würde mich heiraten.«
    »Du kannst Nelly nicht heiraten«, versuchte Ben zu sagen. »Ich liebe sie.«
    Nelly stellte die Laudanumflasche auf den Stuhl zurück und verließ Bens Gesichtsfeld. Caleb schwang seine Beine über die Bettkante, lehnte sich herüber und nahm die Flasche. »Ich hab geträumt, Miss Nelly hätte gesagt, sie würde mich nicht heiraten, aber die alte Mrs. Macklin sagte, sie würde.« Er zwinkerte Ben zu. »Es war ein Alptraum, genau das war es.«
    Ich beobachtete Annie beim Lesen, ihren über das Manuskript gebeugten Kopf, ihren Scheitel. »Das ist der Krieg«, hatte Broun gesagt, als ich mich geweigert hatte zu glauben, daß Ben sich nach nur einer Nacht im Lazarett in Nelly verlieben könnte. »Ein Teelöffel Laudanum, und schon würde Ben alles für sie tun«, hatte ich gesagt, und Broun hatte erwidert: »So war das mit den Menschen im Krieg, sie verliebten sich, und sie opferten sich auf.«
    Vielleicht war es so im Krieg. Wir hatten eine Menge zusammen durchgemacht – Fredericksburg und Chancellorsville und Brandy Station. Ich hatte ihr ihre Träume erklärt, ihr im Schlaf die Hand gehalten, ihre Tränen getrocknet. All das mußte schließlich kameradschaftliche Gefühle hervorrufen, Zuneigung. Doch ich wußte, daß es nicht wahr war. Ich hatte sie von dem Moment an geliebt, als ich sie in ihrem grauen Mantel im Wintergarten hatte stehen sehen.
    Ich bestand darauf, ein Restaurant zu finden, in dem es Brathähnchen gab, als hätten wir aus diesem Grund nach Shenandoah fahren gewollt. Annie nahm einen in eine Serviette eingewickelten Schenkel für die Katze mit nach Hause.
    »Du wirst sie noch umbringen«, sagte ich zu ihr. »Man soll Katzen keine Hühnerknochen geben.« Aber die Katze war nirgendwo zu sehen. Als wir am Nachmittag zurückgekommen waren, war sie zum Wagen gekommen, vorwurfsvoll miauend, aber jetzt war sie weder auf der Außentreppe noch drüben vor dem Coffeeshop.
    »Sie kommt wieder«, sagte ich. »Katzen kommen jedesmal wieder.«
    »Tom Tita nicht. Er war eingeschlossen. Er konnte nicht raus.«
    »Die Katze ist nicht eingeschlossen. Sie hat bestimmt einen anderen Dummen gefunden, der sie füttert, das ist alles. Tom Tita hat sich nicht besonders angestrengt herauszukommen, weißt du. Er war auf dem Speicher vollkommen zufrieden, mit all den Mäusen, und als Markie Williams ihn herausließ, rannte er auch nicht gleich zu Lee zurück. Er hatte Lee nicht einmal vermißt, eigentlich so lange, wie ihn die Unionssoldaten fütterten.«
    »Lee hat ihn vermißt«, sagte sie. »Katzen haben keinen Loyalitätssinn, nicht wahr?«
    »In erster Linie sind sie loyal gegen sich selber. Was hätte es Tom Tita genützt, wenn er Lee im Bürgerkrieg nachgelaufen wäre? Er wäre nur selbst getötet worden. Und die Unionssoldaten haben sich gut um ihn gekümmert, genauso, wie sich jetzt im Moment jemand gut um diese Katze kümmert.«
    »Du hast recht«, sagte sie. »Jemand kümmert sich um sie, und es geht ihr gut«, aber sie schabte das Fleisch von dem Knochen und ließ es in einem kleinen Haufen am Fuß der Treppe liegen, ehe sie hineinging.
    Sie legte sich um acht ins Bett, und ich versuchte noch einmal, Broun im Westgate in San Diego anzurufen. Es ging niemand ran. Ich rief den Anrufbeantworter an.
    »Ich bin immer noch in San Diego, Jeff«, sagte Broun. »Ich habe es nicht mehr geschafft, mich mit dem Endokrinologen zu treffen. Er wurde aus der Stadt gerufen. Ich werde einen Ort namens Dreamtime aufsuchen, während ich darauf warte, daß er zurückkommt. Vermutlich ein Haufen Quacksalber, aber man weiß ja nie.« Ich wartete, weil ich eine Nachricht von Richard erwartete, aber es kam keine.
    Annie klopfte leise an meine Tür. »Ich habe von einem Huhn geträumt«, sagte sie.
    »Bist du sicher, daß das einer von Lees Träumen ist und nicht einfach etwas, das du gegessen hast?« fragte ich sie, schwindelig vor Freude, daß ich sie nicht mit Brandy Station belastet hatte.
    »Ganz sicher«, sagte sie. Sie lehnte am Türrahmen. Sie trug den blauen Morgenmantel über ihrem Nachthemd, und ihre Augen waren blauer, als

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