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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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hatte.
    Nach dem Mittagessen suchten wir die Katze, aber sie ließ sich nicht blicken. Das kleine Häufchen Hähnchenfleisch, das Annie für sie auf der Treppe zurückgelassen hatte, war immer noch da. »Sie hat sich bestimmt irgendwo verkrochen, wo es warm ist«, sagte ich. »Es soll morgen kalt werden.« Wir gingen aufs Zimmer zurück, und ich verbarrikadierte die Türen, als glaubte ich, die Träume damit draußenhalten zu können.
    Ich hätte mir die Mühe nicht zu machen brauchen. Annie schlafwandelte nicht. Sie lag ruhig da, und während ich sie beobachtete, dachte ich, die Träume wären diesmal nicht so schlimm, doch als sie mir davon erzählte, waren sie schlimmer denn je.
    Ihr Haus brannte, und ein Reiter reichte ihr eine Nachricht, die sie mit einer Hand zu öffnen versuchte. Das Papier war um drei Zigarren gewickelt, und sie bekam es nicht ab, weil ihre Hände bandagiert waren. Sie reichte die Nachricht der rothaarigen Serviererin; und diese konnte sie ebenfalls nicht aufbekommen, etwas war mit ihrem Arm nicht in Ordnung, und es war nicht die Serviererin, es war ein Mädchen in einem weißen Nachthemd, und die Nachricht war nicht um Zigarren gewickelt, und Annie fürchtete sich davor; sie zu lesen.
    Sie träumte, sie stünde auf der Veranda in Arlington und stritte sich mit Richard, der Hausschuhe trug. Der Tierarzt kam ebenfalls in dem Traum vor. Er reichte Richard eine Nachricht, und Richard zerriß sie in kleine Fetzen und warf sie auf die Erde.
    »Wer ist der Tierarzt?« fragte sie mich.
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Pickett vielleicht? Longstreet?«
    »Nein«, sagte sie hart. »Richard ist immer Longstreet.«
    Sie träumte von Gettysburg, von Soldaten auf dem Rückzug, die manchmal aus einem brennenden Haus in den Garten kamen, manchmal ein Huhn auf dem Arm trugen. Sie versuchte, sie unter dem Apfelbaum neu zu formieren, schaffte es jedoch nicht, weil Annie unter dem Baum eingeschlafen war.
    Es gab keine Tränen und kein Schlafwandeln während der Träume, und hinterher berichtete sich mir mit rauher Stimme von dem erlebten Grauen, und ich erklärte es ihr, so gut ich konnte, aber sie hörte mir kaum zu. Sie schien all ihre Kräfte für die Träume bewahren zu wollen und lag vollkommen unbewegt auf der grünweißen Decke. Ihre Wangen brannten nicht mehr, und wenn ich ihre Stirn oder ihre Hände berührte, waren sie kalt.
    In den frühen Morgenstunden rief ich den Anrufbeantworter an. Richard sagte: »Annies Untersuchungsergebnisse zeigen einen niedrigen Serotoninspiegel, was auf eine suizidale Depression hindeutet. Die Symbolik ihrer Träume bestätigt das. Das Gewehr repräsentiert ihren Wunsch zu verletzen, der tote Soldat ist offenbar sie selbst.«
    »Ich hatte recht mit dieser Dreamtime-Geschichte«, sagte Broun. »Es war ein Haufen Quacksalber. Phantasievolle Quacksalber, immerhin. Sie sagten, die Träume wären Warnungen, die Willie Lincoln seinem Vater geschickt hat, und als ich sie fragte, wie Willie Lincoln dazu gekommen wäre, Botschaften auszusenden und warum die übrigen Toten, wenn sie schon wissen, was passieren wird, uns nicht vor drohendem Unheil warnten, kamen sie wieder mit dieser Theorie an, daß die Toten normalerweise friedlich schlafen würden, daß Willies Ruhe jedoch gestört worden wäre, als Lincoln ihn ausgraben ließ.
    Ich fliege am Mittwoch nach Sacramento zu einer Schlafklinik. Am Freitag bin ich wieder zu Hause. Am Samstag habe ich eine Signierstunde in Los Angeles und am Montag eine Verabredung. Ich hoffe, du kommst mit den Druckfahnen gut voran, mein Sohn. Es wird nicht möglich sein, mich während der nächsten paar Tage zu erreichen.«
    »Ich weiß«, sagte ich.
    Ich hatte so gut wie nicht geschlafen. »Hast du ein wenig schlafen können, Jeff?« fragte mich Annie beim Frühstück. Sie sah aus, als hätte sie es nicht geschafft. Ihr Gesicht war blaß, und unter den Augen hatte sie dunkle Ringe, die wie Blutergüsse aussahen. Sie saß steif in der Ecke, als habe sie Rückenschmerzen, und gelegentlich rieb sie mit der Hand am Arm entlang.
    »Ein bißchen. Und du?«
    »Es geht schon«, sagte sie und reichte mir den Manuskriptstapel. Sie ließ die Serviererin etwas Kaffee nachschenken, während sie nach der Stelle suchte, wo wir stehengeblieben waren.
    »Erinnern Sie sich an die große Schlechtwetterfront, von der neulich gesprochen wurde?« sagte die Serviererin. »Sie ist über dem Mittelwesten ein paar Tage zum Stehen gekommen, aber jetzt bewegt sie sich wieder.

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