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Lincolns Träume

Lincolns Träume

Titel: Lincolns Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Connie Willis
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und dann sprengte er auf Traveller durch eine Lücke zwischen den Kanonen bis vor die Linie, um den Angriff zu leiten. »Zurück, General Lee!« riefen die Soldaten. »Zurück!« Ein Sergeant packte Travellers Zügel, und General Gregg ritt herbei, um ihn dort wegzubringen. Die Soldaten unterbrachen ihren Vormarsch und riefen: »Wir gehen erst weiter, wenn Sie wieder hinten sind.« Doch Lee schien sie nicht zu hören.
     
    NACH UNSERER RÜCKKEHR lasen wir Fahnen, ich im grünen Sessel, die Füße auf dem Bett, Annie gegen die Kissen gelehnt, das lektorierte Manuskript auf den Knien. Broun hatte das Schlachtfeld endlich hinter sich gelassen und war in einem Notlazarett angelangt, wo Ben mit seinem verletzten Fuß hingebracht worden war und von einem sechzehnjährigen Mädchen namens Nelly gepflegt wurde.
    In diesen Kapiteln führte Broun eine ganze Reihe neuer Charaktere ein; einen überarbeiteten, alkoholabhängigen Chirurgen, der vor dem Krieg Pferdedoktor gewesen war, einen alten Drachen von Krankenschwester, Mrs. Macklin, einen schnellsprechenden gemeinen Soldat namens Caleb, der ganze fünfzehn Jahre alt war.
    Theoretisch gesehen war es eine schlechte Idee, so viele neue Charaktere so weit hinten im Buch einzuführen, aber Broun hatte keine andere Wahl. So wie Lee hatte er alle anderen umgebracht, und jetzt war es an der Zeit, die alten Männer und die Jungen zu bringen. Und die Frauen.
    »Wo hat’s dich denn erwischt?« (las Annie) fragte der Junge im Bett neben Bens. »Ich hab’s am Fuß.«
    »Ich auch«, sagte Ben und drehte vorsichtig den Kopf, um ihn anzusehen. Er befürchtete, daß er ohnmächtig werden würde, wenn er sich zu heftig bewegte. Er war auf dem Wagen ohnmächtig geworden. Der Sanitäter hatte ihn hinten aufrecht gesetzt und seine Arme über die Seiten gelegt, und er hatte zugesehen, wie das Blut vom Wagen in den Straßenstaub hinuntertropfte. Er hatte den Eindruck gehabt, daß es alles sein eigenes Blut war, und als er mehr Blut verloren hatte, als ein Mensch verlieren konnte, war er ohnmächtig geworden.
    Er war zu sich gekommen, als man ihn die Treppe hinaufzutragen versuchte, doch eine große, brutal aussehende Frau war mit seinem Fuß gegen das Geländer gestoßen, und er war wieder bewußtlos geworden.
    »Hat mich nicht übel erwischt«, sagte der Junge stolz. Er hatte ein freundliches, sonnenverbranntes Gesicht. »Ich geh wieder zurück, sobald sie mich lassen. Ich heiße Caleb. Und du?«
    Ben hatte ihm zu antworten versucht, doch es wurde auf einmal dunkel um ihn herum, und er hörte das Geräusch eines wiehernden Pferdes. Bens Herz pochte. »Malachi?« sagte er.
    »Versprechen Sie mir, daß Sie mir die Hand halten«, sagte jemand in jämmerlichem Ton, und Ben fürchtete, er habe das gesagt, doch die Stimme fuhr fort: »Es kann nichts Schlimmes passieren, so lange wie Sie sie halten«, und Ben wußte, daß das nicht stimmte, deshalb sagte er sich, daß jemand anderer sprach. Das Pferd wieherte wieder, und diesmal erkannte Ben, daß es ein Schrei war.
    »Ich verspreche es«, sagte die Stimme eines Mädchens, ernst, freundlich, und dann war es auf einmal Morgen, und das Mädchen stand über ihm und sagte: »Ich bringe Ihnen Ihre Medizin. Können Sie sich aufsetzen und sie nehmen?«
    Sie war wunderschön. Sie hatte ihr helles, zartes Haar zu einem Knoten zurückgekämmt. Als sie sich vorbeugte, um die braune Flasche auf den Stuhl zu stellen, sah Ben den Scheitel in ihrem Haar. Sie trug eine Schürze und ein graues Kleid, das aussah, als ob es einmal blau gewesen wäre.
    »’türlich kann ich mich aufsetzen für Sie«, sagte der Junge, der Caleb hieß. Er saß auf der Decke. »Für Sie könnt’ ich aufstehn und tanzen gehn, aber würden Sie mit mir tanzen? Nein. Sie brechen mir das Herz, Miss Nelly, das wissen Sie doch, oder?«
    »Ich glaube nicht, daß Sie schon so weit sind, daß Sie tanzen können«, sagte Nelly und goß das Laudanum auf einen Blechlöffel. Calebs Bein war mit dicken weißen Leinenstreifen bandagiert, aber Ben konnte erkennen, daß der Fuß fehlte. Er fragte sich, ob ihm auch ein Fuß fehlte.
    Ben schluckte das Laudanum hinunter.
    »Ich hob aber gerade heute Lust, mit Ihnen zu tanzen«, sagte Caleb und griff nach Nellys Hand. »Wir rücken die Betten gegen die Wand, Miss Nelly, und du« – er winkte Ben mit der Hand – »spielst uns ’n Tanzliedchen.«
    »Nelly! Komm weg da!« sagte eine Frauenstimme. Die Frau kam herüber und stellte sich ans Fußende des Bettes,

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