Linda Lael Miller
seine Worte wie Steine, die mit aller Kraft geschleudert wurden
und sie mitten in die Seele trafen. »Gavin ...«
Er stieß
ein leises, spöttisches Gelächter aus. »Wie liebevoll du meinen Namen
aussprichst«, sagte er und trat neben die Wiege. Seine Gesichtszüge verloren
etwas von ihrer Härte, als er das schlafende Kind betrachtete. »Warst du zu
deinem Liebhaber auch so zärtlich wie zu mir?«
Katherine
ließ sich entmutigt auf die Kissen zurücksinken und legte für einen Moment
beide Hände über ihr Gesicht, um ihre Haltung wiederzugewinnen. »Ich weiß es
nicht«, erwiderte sie aufrichtig.
Als sie
wieder aufschaute, ertappte sie Gavin dabei, wie er sie mit unverhohlenem
Kummer musterte. Der Ausdruck verschwand jedoch so plötzlich wieder, daß sie
sich fragte, ob es nur Einbildung gewesen war.
»Gute
Nacht«, sagte Gavin ohne jegliches Gefühl, und dann wandte er sich ab,
schlenderte hinaus und schlug hart die Tür hinter sich zu.
Für lange
Zeit lag Katherine zitternd in dem Bett der anderen Frau, beobachtete die
Schatten, die sich in den Zimmerecken sammelten, und das Feuer, das allmählich
zu Glut erstarb. Endlich, als sie sich stark genug fühlte, stand sie auf und
kniete vorsichtig neben der Wiege ihres Sohnes nieder.
Er schlief,
sein dichtes Haar schimmerte schwarz wie Ebenholz auf den weißen Kissen, und
sie berührte ihn ganz sachte und staunte, daß ein so bezauberndes Wesen in
einer so unfreundlichen Welt existieren konnte. Es war eine Miniaturausgabe von
Gavin Winslow, dieses winzige Geschöpf, und Katherine liebte es bereits und
betrachtete es als einen Teil von sich.
»Du siehst
genauso aus wie dein Vater«, flüsterte sie ihm zu. »Eines Tages wird er das
schon merken. Es könnte allerdings eine Weile dauern, glaube ich, denn du
siehst ja, was für ein eigensinniger Mensch er ist. Wir werden sehr viel Geduld
aufbringen müssen, du und ich.«
Lange Zeit
blieb sie neben der Wiege hocken, bewunderte das Kind und erfreute sich an
seinem Anblick. Dann, als sie die Anstrengung in ihrem erschöpften Körper spürte,
erhob sie sich schwerfällig und ging zur Waschkommode.
Dort hing
ein Spiegel, in einem breiten dunklen Holzrahmen, und Katherines erster Blick
auf sich hatte eine ähnlich heftige Wirkung auf sie wie ein unverhofftes Erdbeben.
Die Kraft
wich aus ihren Knien, und sie preßte eine Hand auf ihre Brust, in dem sinnlosen
Versuch, das aufgeregte Klopfen ihres Herzens zu beschwichtigen. Sie erinnerte
sich nicht, wo sie vor dem Unfall gewesen war, bevor sie die Kristallbrücke
überquert und sich im Jahre 1895 wiedergefunden hatte, aber sie wußte, daß sie
nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Frau besessen hatte, die sie aus dem
Spiegel anschaute.
Tatsächlich
konnte sie sogar ihr früheres Ich sehen, das neben der Fremden stand, die sie
geworden war.
In jenem
anderen Leben war sie klein und schlank gewesen, während die Frau, die sie aus
dem Spiegel ansah, groß war und zwar eine schlanke Taille, aber ansonsten eine
recht üppige Figur besaß.
Vorher
hatte Katherine kurzes braunes Haar gehabt, das sie in einem glatten Pagenkopf
getragen hatte. Jetzt fielen kastanienrote Locken, dicht und wellig, über ihre
Schultern und den Ausschnitt ihres Nachthemds. Ihre Augen waren grün, ihre
Wangenknochen ausgeprägt und hoch, ihre Lippen voll, ihre Haut makellos und von
einem Ton wie helles Elfenbein.
Katherine
starrte sich sehr lange an. Dann, als die Schwäche in ihren Beinen übermächtig
wurde, wandte sie sich ab und kehrte langsam zum Bett zurück.
Sie hatte
sich kaum hingelegt und zugedeckt, als eine Frau mit einem Tablett eintrat. Es
war dieselbe Frau, die Dr. Franz geschickt hatte, um Gavin zu holen, als offensichtlich
war, daß die Geburt des Kindes unmittelbar bevorstand.
»Das
Abendessen, Mrs. Winslow«, sagte sie, ohne Katherine anzusehen.
Angesichts
der Tatsache, daß sie sich im Jahre 1895 befanden und die Hausherrin ganz
offensichtlich eine Affäre gehabt hatte, vermutete Katherine, daß das Dienstmädchen
sie als eine in Ungnade gefallene Frau ansah, mit der es lieber nicht in
Verbindung gebracht werden wollte. Bei dem Gedanken kam Katherine sich noch
isolierter vor, noch verwirrter und verängstigter.
»Es riecht
sehr gut, was du mir da bringst«, sagte sie in einem verzweifelten Versuch,
Konversation zu machen.
»Ja,
Madam«, antwortete das Mädchen. »Die Köchin versteht etwas von Saucen. Der
Doktor ißt dieses Gericht am liebsten.«
»Dr.
Franz?« fragte
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