Linda Lael Miller
anzuziehen.
Maria
wandte sich lächelnd zu ihr um. »Ja. Ich hoffe, Sie haben sich keine Sorgen
gemacht – wir waren während des Gewitters bei Tante Nisa und Onkel Tie. Mein
Onkel hat uns heute morgen heimgebracht.«
Obwohl
Katherine Christopher sehr vermißt hatte, vertraute sie auf Marias Fähigkeit,
auf ihn aufzupassen, und war daher nicht übermäßig besorgt gewesen. »Ich habe
mich auf dich verlassen, Maria. Aber laß mich jetzt meinen hübschen kleinen
Jungen halten, bevor ich vor Sehnsucht nach ihm sterbe.«
Sanft
überreichte Maria den Säugling Katherine, die ihn an die Brust zog und den Kopf
beugte, um sein seidenweiches Haar zu küssen.
»Hast du
Dr. Winslow heute morgen schon gesehen?« fragte sie und hoffte, daß die Frage
nicht allzu viel von ihren Gefühlen verriet.
Ein
verstohlener Blick auf Marias Gesicht bewies jedoch, daß
die Indianerin längst erraten hatte, was in der Nacht geschehen war –
wahrscheinlich war ihr aufgefallen, daß Katherine kein Nachthemd trug, und
bestimmt hatte sie auch die Reitstiefel vor dem Kleiderschrank nicht übersehen.
»Ich könnte
mir vorstellen, daß er zum Strand hinuntergegangen ist«, erwiderte Maria
lächelnd. »Wenn den Doktor irgend etwas sehr beunruhigt, dann kommt er gerne
her und geht am Strand spazieren, um in Ruhe nachzudenken.«
Katherine
zog Christopher unwillkürlich noch ein bißchen fester an sich und streichelte
seinen Rücken. Gavin hatte sie in der Nacht zuvor geliebt und sie damit, ohne
es zu wissen, auf unwiderrufliche Weise und für immer verändert, aber das Wort > Liebe < hatte er nicht ein einziges Mal ausgesprochen. Sie konnte daher
nur vermuten, daß ihm heute morgen Zweifel gekommen waren und er vielleicht
sogar bedauerte, was in der Nacht geschehen war.
»Sie sehen
so traurig aus«, sagte Maria, als sie zum Bett kam, sich auf die Kante setzte
und tröstend Katherines Hand ergriff.
Tränen
schimmerten in Katherines Augen. »Das bin ich auch«, erwiderte sie leise. Und
dann – weil sie wußte, daß die Indianerin ihr freundliche Gefühle entgegenbrachte
und sie das Geheimnis einfach nicht länger für sich behalten konnte – begann
sie, ihr die ganze, unglaubliche Geschichte zu erzählen. Mit behutsamen Worten
schilderte sie Maria jenes andere Leben, beschrieb ihr so anschaulich wie
möglich die Autobahn, den schnellen Sportwagen und den Lkw, der sie geschnitten
hatte. Sie sprach von dem Unfall, der Kristallbrücke und dem Schock, im Körper
einer anderen Frau zu erwachen – einer Frau, die gerade in den Wehen lag – und
dem sogar noch eigentümlicheren Gefühl, daß sie Gavin Winslow schon seit einer
Ewigkeit gekannt hatte, daß ihre Liebe zu ihm so alt war wie die Sterne und daß
sie zu ihm gehörte.
Als sie
ihre Erzählung beendet hatte, blieb Katherine ruhig sitzen, hielt Christopher
in den Armen und wartete gespannt, ob es wenigstens einen Menschen auf dieser
Welt gab, der ihr ihre Geschichte glauben würde.
9. Kapitel
Maria nahm Katherine vorsichtig das Baby
ab, das an der Brust seiner Mutter eingeschlafen war, und legte den kleinen
Christopher in seine Wiege.
Das Laken
um den Körper geschlungen, rutschte Katherine zum Fußende des Betts, wo ihr
seidener Morgenrock lag, den sie dann hastig überstreifte. Sie hoffte, daß
Maria sich noch an den Tag erinnerte, an dem sie zur Insel gefahren waren, als
sie an der Reling des Schiffs gestanden hatten und die Indianerin gesagt hatte: Sie sind nicht verrückt. Und Sie sind auch nicht Katherine Winslow.
Als
Katherines Freundin sich zu ihr umwandte, erhellte ein aufmunterndes Lächeln
ihr Gesicht. »Es gibt viele seltsame Legenden in unserem Volk«, meinte sie
achselzuckend. »Und wer sind wir schon, um über Wahrheit oder Unwahrheit zu
entscheiden?«
Katherine
war so erleichtert, daß sie sich für einen Moment hinsetzte. »Weißt du, was
Gavin wahrscheinlich sagen würde, wenn ich ihm die gleiche Geschichte erzählen
würde? Daß sie auf eine geplatzte Ader in meinem Gehirn oder irgendeine
psychotische Erfahrung zurückzuführen ist.«
Marias
hübsches Gesicht nahm einen verständnislosen Ausdruck an. »Was?«
»Er würde
mich für verrückt erklären«, antwortete Katherine schlicht.
»Erzählen
Sie mir mehr von jener anderen Welt. Ist sie besser als diese hier?«
»In mancher
Hinsicht ja«, antwortete Katherine seufzend. »In
hundert Jahren sind große medizinische Fortschritte errungen worden.« Sie
schaute zu Christopher hinüber, der friedlich in seiner Wiege
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