Linda Lael Miller
Banditen«, stimmte er zu. Es kam selten vor, daß er sich so
desorientiert und hilflos fühlte wie in diesem Augenblick; im allgemeinen
wußte er ganz genau, was er zu tun hatte. Ein Dutzend blutrünstiger Verbrecher
konnten jeden Augenblick auf Parable und die Umgebung losgelassen werden –
wenn sie nicht inzwischen längst von ihren sechs weiteren Komplizen befreit waren. Es war seine Pflicht, bei ihrer Ergreifung mitzuhelfen, aber er konnte
Nicholas unmöglich unbewacht und krank hier liegenlassen. Er hatte von Anfang
an nicht richtig über die drohende Gefahr durch die Banditen nachgedacht, weil
er sich solche Sorgen um seinen Sohn und um Charlie gemacht hatte.
Selbst wenn
sie auf der Ranch gewesen wären und Nicholas im Bett, wo seine Mutter ihn hätte
pflegen können, wäre Gabe nirgendwohin gegangen.
Charlie
mußte erraten haben, was er dachte. »Falls Nicholas ihr Ziel ist«, sagte er,
während er aufstand und seine fettigen Finger an seinen Hirschlederhosen
abwischte, »dann ist er auch der Köder.«
»Sie haben
es auf ihn abgesehen, das ist klar«, pflichtete Gabe ihm bei. Aber das zu
wissen, war kein Trost für ihn; er wäre glücklicher gewesen, wenn die Bande
einfach nach Mexiko geritten wäre, um dort den Rest ihres Lebens bei Tequila
und hübschen Seňoritas zu verbringen, aber er wußte, daß sie es nicht tun
würden. Nicht, bevor sie seinen Sohn getötet und seinen Verrat gerächt hatten.
»Er kennt
ihre Namen«, sagte Charlie mit ernster Miene. Einen Moment betrachtete er
Nicholas sorgenvoll, dann glitt sein Blick zu Gabe. »Wenn man den Namen eines
Mannes weiß, besitzt man Macht über ihn.« Er hielt inne. »Wir haben keine Zeit,
zur Ranch
zurückzukehren. Und wenn Horncastle und die anderen uns hier draußen erwischen,
haben wir keine Chance.«
»Du kennst
dich in dieser Gegend besser aus als ich«, antwortete Gabe. Im Gegensatz zu
Nicholas und Charlie hatte er die meiste Zeit seines Lebens im flachen Land
verbracht, Rinder gezüchtet und Silber aus seinen Bergwerken gefördert. Und
alles mögliche getan, um Annabel zu vergessen. »Was schlägst du also vor?«
Charlie
wandte kurz den Blick ab und zwang sich dann, Gabriel wieder anzusehen, was ihm
jedoch sichtlich schwerzufallen schien. »Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es
vielleicht noch bis zum Haus deiner Mutter.«
Nach dieser
Erklärung, die für Gabriel wie ein Schlag unter die Gürtellinie war, warf der
Indianer Erde auf das Feuer und hockte sich neben Nicholas. Er hob den Jungen
auf die Arme, wie es schien, ohne die geringste Anstrengung. Nicholas kam kurz
zu sich und verlor dann wieder das Bewußtsein.
»Er wird
mit dir reiten«, befahl Charlie, als bemerkte er Gabes erschüttertes und
unheilvolles Schweigen nicht. »Es ist nicht weit. Ich reite auf Nicholas' Pferd
voran.«
Gabe
schwang sich in den Sattel und bückte sich, um seinen Sohn zu nehmen, als
Charlie ihn zu ihm hinaufreichte. Eine seltsame Benommenheit hatte Besitz von
ihm ergriffen; die ganze Welt um ihn herum schien im Rhythmus seines eigenen
Herzschlags zu pulsieren.
»Es tut mir
leid«, sagte Charlie, als er Nicholas' Pferd bestieg. »Ich hätte es dir nicht
auf diese Art gesagt, wenn ich eine andere Wahl gehabt hätte.«
»Du hättest
mir gar nichts gesagt!« entgegnete Gabe
wütend, während er Nicholas mit einem Arm festhielt und mit der anderen das
Pferd lenkte. All diese Zeit
war sie irgendwo ganz in seiner Nähe gewesen – die Mutter, um die er fast sein
ganzes Leben lang getrauert hatte.
Charlie
erwiderte nichts; sie hatten keine Zeit. Er trieb den Wallach in den Wald, und
Gabe zögerte keine Sekunde, ihm zu folgen.
Sie ritten
fast eine Stunde, und ein- oder zweimal waren sie gezwungen anzuhalten, weil
Charlie zurückritt,
um sich zu überzeugen, daß sie nicht verfolgt wurden. Irgendwann jedoch wich
der dichte Wald dann endlich einer grasbestandenen Lichtung mit einem Bach und
einer kleinen Hütte.
Eine Frau
in einem abgetragenen Kleid aus Hirschleder und blondem, mit silbernen
Strähnen durchsetztem
Haar, das ihr auf die Schultern fiel, erwartete sie vor der offenen Tür der
Hütte. Sie wäre eine Ausgestoßene unter ihren eigenen Leuten gewesen, und
dennoch wirkte sie so stolz und majestätisch wie eine Königin, als sie dort
stand und ihnen entgegensah.
Gabe hatte
sie für tot gehalten oder geglaubt, sie lebte zumindest sehr, sehr weit
entfernt. Doch nun, während er
seinen todkranken Sohn in seinen Armen hielt,
begriff er, daß sie die ganze
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