Linda Lael Miller
Bei Annabel kam er sich immer so vor, als stünde er auf
einem Bahnhof und schaute, einen Fahrschein in der Hand, dem letzten Zug nach,
der an diesem Tag abfuhr.
»Das
Jennings-Haus«, antwortete sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Du weißt schon,
das, wo der Mord geschehen ist.«
Gabe warf
ihr einen bösen Blick zu. Er konnte einfach nichts dagegen tun, sie brachte
ihn in Rage. »Dies ist ein schönes, großes Haus«, sagte er, aufrichtig
bemüht um einen ruhigen, beherrschten Ton. »Und hier ist kein Mord geschehen.«
Er beugte sich ein wenig vor. »Noch nicht.«
Annabel
wirkte ein wenig verunsichert, aber alles andere als überrascht. »Verstehst du
nicht, Gabriel, daß dies eine Art neutrales Terrain sein wird, bis wir alles in
der richtigen Perspektive sehen?«
Gabe wollte
keine Perspektive; er wollte Annabel. In dieser Küche hier, an diesem Herd; in
seinem Arbeitszimmer und warm und anschmiegsam in seinem Bett.
»Was du
wirklich meinst, ist, daß du nicht mehr mit mir schlafen willst«, stellte er
fest. »Und das finde ich sehr verwirrend, nach allem, was gestern nacht
geschehen ist.«
Annabel
errötete auf jene anmutige Art, die Gabe schon immer irritiert und gleichzeitig
erregt hatte. »Gabriel, der Küchentisch ist nicht der richtige Ort, um derart
intime Dinge zu besprechen«, klärte sie ihn auf. Das war der Grund, weshalb sie
Nicholas eigentlich hatte dabeihaben wollen – damit eben dieses Thema nicht
angeschnitten wurde.
»Es wird
nichts ändern, Annabel«, fuhr Gabriel ruhig fort, »ob du in Parable, in Boston
oder in Tim buktu bist. Denn etwas ist gestern nacht geschehen, etwas, das
sehr viel mehr war als eine flüchtige Umarmung. Die Dinge zwischen uns haben
sich geändert.«
Sie wandte
den Blick ab, voller Unbehagen – ein sicheres Zeichen, daß sie wußte, daß er
recht hatte und sich vor der Veränderung fürchtete, die zwischen ihnen
eingetreten war. Für Gabe war diese Veränderung so etwas wie das Richten eines
gebrochenen Knochens oder die makellose Restaurierung eines Bildes, obwohl es
natürlich mehr etwas Seelisches als Körperliches war.
»Ich kann
es nicht ertragen, Gabriel«, sagte Annabel endlich leise, und ihre Augen
flehten ihn an um etwas, das er nicht verstand.
Er streckte
die Hand aus, schloß seine Finger um ihre und merkte, daß sie zitterte. »Was?«
fragte er. »Sag mir, wovor du solche Angst hast, Annabel.«
Tränen
stiegen in ihre schönen Augen, und Gabriel war gerührt, denn es war sehr
ungewöhnlich für Annabel zu weinen. »Ich fürchte mich vor mir selbst, Gabriel,
und auch vor dir«, flüsterte sie schließlich unglücklich. »Ich habe dich damals
so sehr geliebt – und dennoch hat es nicht genügt. Das ist es, was ich nicht
ertragen kann – dir nicht genug zu sein!«
Gabe holte
tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus, in einem Versuch, Empfindungen zu
zügeln, die er sonst nicht an sich kannte. Oder sich nicht eingestehen wollte.
Annabel bezog sich natürlich auf Julia, und Gott wußte, daß er dieser Frau
tatsächlich sehr, sehr nahestand. Obwohl er sie noch nie geliebt hatte –
körperlich zumindest nicht –, war ihre Freundschaft viel zu eng, um als
unschuldig und harmlos abgetan zu werden. Denn es gab noch tausend andere Arten von
Intimität als die bloße Vereinigung zweier Körper.
Gabe hatte
viele Nächte neben Julia gelegen. Er hatte ihr Dinge anvertraut, die er mit
niemand anderem hatte teilen können, und bei einer denkwürdigen Gelegenheit, als
selbst große Mengen Whiskey nicht den Schmerz betäuben konnten, der ihn fast
unablässig plagte, hatte er in Julias Armen wie ein Kind geweint.
Zwölf Jahre
lang war sie sein einziger Trost gewesen.
»Liebst du
Julia Sermon?« fragte Annabel jetzt etwas ruhiger.
»Nein«,
antwortete er ohne das geringste Zögern. Julia so zu lieben, wie Annabel
meinte, lag ihm genauso fern, wie Jessie in irgendeiner anderen Form als
brüderlich zu lieben. Aber das hieß nicht, daß er imstande wäre, sich von ihnen
abzuwenden, von Jessie oder Julia, und das war etwas, was er Annabel
nie hatte begreiflich machen können.
Verdammt,
er verstand es ja selbst die meiste Zeit nicht!
»Aber du
wirst sie auch in Zukunft sehen.« Es war eine Feststellung, keine Frage.
»So, wie
die Lage augenblicklich ist«, antwortete Gabe wahrheitsgetreu, »will sie mich
nicht in ihrer Nähe haben.«
Annabel
senkte den Blick, blinzelte und musterte Gabe dann mit jenem scharfen Blick,
den er an ihr zu fürchten gelernt
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