Linda Lael Miller
dachte sie, er werde sie jetzt in die Arme nehmen
und küssen – doch dann trat er seufzend zurück und legte seinen Rock ab. »Tritt
mich ruhig, Annabel«, sagte er. »Du wirst uns trotzdem nicht begleiten.« Und
damit wandte er sich ab und ging zu seinem Arbeitszimmer. Annabel starrte ihm
einen Moment hinterher und dachte, wie unglaublich attraktiv er in seinen
schwarzen Hosen, dem blütenweißen Hemd und der eleganten Weste aus Brokat
aussah.
Doch dann
riß sie sich aus ihren Träumereien und folgte ihm. »Du bist unvernünftig«,
widersprach sie und beeilte sich, mit ihm Schritt zu halten, »ganz zu schweigen
von tyrannisch. Hast du etwa schon vergessen, daß ich dieselbe Reise erst vor
ein paar Tagen mit meinem Wagen unternommen habe?«
Vor ein
paar Tagen. Großer Gott, es war seitdem so vieles geschehen, daß es ihr fast
wie ein Jahr vorkam! Im Arbeitszimmer schloß Gabriel die Tür und bedeutete
Annabel mit einer Geste, sich zu setzen. Sie tat es, aber nicht etwa aus
Gehorsam, sie war an diesem Morgen mit Kopfschmerzen und einer leisen Übelkeit
erwacht, die eine ganz eigenartige Schwäche in ihr auslösten.
Gabriel
schenkte sich einen Brandy ein. »Wir werden nicht in einer bequemen Kalesche
reisen«, antwortete er, als er sich zu ihr umdrehte, und sie sah, wie ein
belustigtes Lächeln um seine Lippen erschien, das er jedoch rasch wieder
unterdrückte.
Es fiel ihr
nicht leicht, ihren Ärger zu beherrschen, aber unter Aufbietung ihrer ganzen
Willenskraft gelang es ihr. »Behandle mich nicht wie ein kleines Kind,
Gabriel«, sagte sie warnend. »Ich hatte daran gedacht, ein Pferd zu nehmen, und
du weißt, daß ich mindestens so gut reiten kann wie du oder alle anderen hier
auf dieser Ranch.«
»Das stimmt
schon«, gab Gabriel zu und schwenkte ein wenig unsicher den Brandy in seinem
Glas, was Annabel ein leises Triumphgefühl verschaffte. Und vielleicht sogar
noch etwas anderes. »Aber die Reise wird zwei Tage dauern, wenn nicht sogar
noch länger – Rinder sind sehr langsam, das weißt du selbst –, und wir haben
gerade erst eine ansehnliche Herde an Viehdiebe verloren. Ich möchte nicht, daß
du dabei bist, falls sie es noch einmal versuchen.«
»Und
trotzdem hoffst du, daß sie es tun – wer immer sie auch sein mögen?«
»Natürlich
hoffe ich das«, antwortete Gabriel, als überraschte es ihn, daß sie überhaupt
fragte. Er saß jetzt in seinem bequemen Ledersessel hinter seinem Schreibtisch
und sah genauso aus wie das, was er auch war: einer der mächtigsten Rancher in
ganz Nevada. Und
nach allem, was Jessie Annabel erzählt hatte, erwog man in der Stadt bereits,
ihn für das Amt des Marshals vorzuschlagen.
Ein
schreckliches Bild entfaltete sich vor ihren Augen.
»Du
könntest erschossen werden«, murmelte sie.
Gabriel
hatte seine Brille aufgesetzt – Annabel verspürte wieder dieses eigenartige
Flattern in ihrem Bauch, als sie es sah – und öffnete nun eins seiner
Rechnungsbücher. »Diese Gefahr«, erwiderte er geistesabwesend und jetzt auch
ein bißchen distanziert, »bestand schon immer.« Er schaute nicht mehr von den
Zahlen auf, die er studierte. »Keiner von uns wird ewig leben, Annabel.«
»Genau«,
sagte sie, nachdem sie wieder ein bißchen zu Atem gekommen war. Was mochte es
nur sein an dieser Brille, was sie wie ein törichtes kleines Mädchen reagieren
ließ? »Du hast mir gerade den perfekten Grund geliefert, an diesem Rinderauftrieb
teilzunehmen.«
Gabriel hob
den Kopf. »Nein, Annabel«, erwiderte er knapp. »Und das ist jetzt mein letztes
Wort.«
»Du kennst
mich viel zu gut, um so etwas zu sagen, Gabriel.«
»Mach
keinen Wettbewerb daraus, Mrs. McKeige. Ich versichere dir, daß ich ihn
gewinnen werde.«
»Dies ist
ein freies Land, Gabriel. Wenn ich nach Fort Duffield reisen will, kann ich es
tun. Ich bin ja schließlich keine Gefangene hier.«
Einen
entnervenden Moment lang betrachtete Gabriel sie. Dann sagte er: »Das wäre
vielleicht eine Lösung. Dich irgendwo hier einzusperren, meine ich.«
Annabel
rutschte auf den Rand des Stuhls. »Wenn du so etwas
auch nur versuchst, Gabriel, werde ich persönlich dafür sorgen, daß du es bis
an das Ende deiner Tage bitter bereuen wirst! Ich habe etwas Wichtiges in Fort
Duffield zu erledigen, und genau das werde ich auch tun.« Sie wollte mit
Captain Sommervale reden, um ihm klarzumachen, daß Nicholas nicht der gesuchte
Viehdieb war, aber sie hatte nicht vor, Gabriel oder irgend jemand anderem von
ihren Plänen zu erzählen.
Weitere Kostenlose Bücher