Linda Lael Miller
Locken aus ihrem Gesicht und ihren Wangen. »Mir
auch, Mrs. McKeige. Mir auch.«
»Was?«
fragte sie sehr leise, sehr behutsam, und schaute ihm prüfend in die Augen –
als hinge ihre ganze Existenz von seiner Antwort ab.
»Ich
wünschte, ich wäre dir damals gefolgt, Annabel. Ich
wünschte, ich wäre nicht so starrsinnig gewesen.«
Sie war
gerührt von seinem Eingeständnis, obwohl es längst nicht alle ihre Zweifel
klärte. »Und Julia? Bereust du auch eure Beziehung?«
»Nein«,
erwiderte Gabriel ohne Zögern, und als Annabel sich von ihm abwenden wollte,
hielt er sie an den Schultern fest und fuhr entschieden fort: »Nein, Annabel.
Ich habe keinen Anlaß, meine Freundschaft mit Julia zu bereuen, höchstens, daß
ich unterlassen habe, dich über die wahre Natur unserer Beziehung aufzuklären. Das bereue ich.«
Sie starrte
ihn an, verblüfft und zitternd und errötend. Zum ersten Mal in ihrem Leben
verschlug es Annabel die Sprache.
»Annabel«,
fuhr Gabriel fort, »ich habe immer nur dich geliebt. Du warst die erste Frau,
mit der ich geschlafen habe, und die letzte. Es hat nie eine andere für mich
gegeben.«
Die Worte
rührten tief in ihrem Herzen etwas an und hallten dort auf eine Weise wider,
wie es nur die pure Wahrheit konnte. Tatsächlich war sie in ihrem ganzen Leben
noch nie von irgend etwas derart überzeugt gewesen; sie war plötzlich absolut
sicher, daß sie wirklich und wahrhaftig Gabriels einzige Geliebte war, genau
wie er der einzige Mann war, mit dem sie je intim gewesen war.
Aber wie
war das überhaupt möglich? Wie hätte ein so sinnlicher, so leidenschaftlicher
Mann wie Gabriel zwölf Jahre lang enthaltsam leben können?
»Aber du
und Julia ...«
»Wir waren
schon als Kinder Freunde, Annabel, das weißt du. Nach der Entführung meiner
Mutter verlor mein Vater vor Gram fast den Verstand. Jessie war älter, und sie
hatte einen Ehemann und ein eigenes Heim, um das sie sich zu kümmern hatte.
Ich hatte niemanden außer Julia, und sie hatte niemanden außer mir.
Sie
bewahrte mich davor, mich zu Tode zu trinken, nachdem du mich verlassen
hattest, oder mich durch Schießereien oder Prügeleien umzubringen. Julia
besitzt die Gabe, zuzuhören und mir gut zuzureden. Oder einfach für mich
dazusein. Manchmal ist das alles, was man braucht.«
Annabel war
noch immer eifersüchtig, sehr sogar, denn obwohl sie ihm nun glaubte, daß er
nie mit Julia intim gewesen war, haßte sie den Gedanken, daß er bei einer
anderen Frau Trost gesucht hatte. Trost, den sie selbst ihm nie hatte geben
können.
»Und du,
Gabriel? Was hast du für sie getan?«
»Ich habe
dafür gesorgt, daß Julia sich nie mit Männern herumzuschlagen brauchte, die mit
ihr ins Bett wollten.«
»Sich nie
mit Männern ... Aber sie ist eine Prostituierte!«
Gabriel
schüttelte den Kopf »Nein«, widersprach er.
»Was soll
das heißen: nein? Julia Sermon führt ein Bordell!«
»Ja. Und
dazu steht sie auch, wie wir alle zu den Dingen stehen müssen, die wir tun.
Julia ist eine Frau ... mit Vergangenheit – mehr werde ich dazu nicht sagen,
weil es ihre Sache ist, Annabel, und nicht deine oder meine –, und alles, was
sie heute ist, steht in direktem Zusammenhang mit jener Zeit, bevor sie nach
Parable kam.«
»Du willst
mir nicht erzählen, was geschehen ist?«
»Nein«, antwortete Gabriel. »Wenn du es
wissen willst,
mußt du Julia selbst fragen. Aber weißt du, das ist eigentlich gar nicht
wichtig. Ich habe nie mit ihr geschlafen, Annabel. Ein, zwei Nächte habe ich in
ihrem Bett verbracht, das muß ich zugeben, und ein paarmal habe ich mich sogar
in ihren Armen ausgeweint.«
Annabel
legte eine Hand an ihre Brust und löste sich aus Gabriels Umarmung. Eigentlich
hätte sie jetzt froh sein müssen über die Erkenntnis, sich in all diesen Jahren
in ihm geirrt zu haben, aber da waren noch andere Emotionen, die sie
bestürmten, und alle waren ziemlich überwältigend.
Sie hatte
soviel Zeit vergeudet.
Und obwohl
Gabriel ihr treu gewesen war, in rein körperlicher Hinsicht jedenfalls, hatten
er und Julia eine sehr enge, sehr private Bindung unterhalten, deren Tragweite
vielleicht gerade wegen ihrer Unschuld noch erheblich größer war.
»Ich möchte
jetzt eine Weile allein sein«, sagte sie leise.
»Ich bringe
dir das Essen nach oben, wenn es fertig ist«, bot Gabriel ihr an.
Annabel
erwiderte nichts und schaute sich auch nicht nach ihm um, als sie hinausging.
Es war viel gesagt worden, und sie suchte Zeit und Ruhe, um dies alles
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