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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Miroljubow kletterte sofort auf die Pritsche. Die Füße des Doktors steckten in Hausschuhen. Krist hob erstaunt die Brauen.
    »Nein, nicht von zu Hause, aber in der Taganka , wo ich zwei Monate gesessen habe, geht es einfacher zu.«
    »Die Taganka ist doch ein Strafgefängnis?«
    »Ja, natürlich, ein Strafgefängnis«, bestätigte Doktor Miroljubow zerstreut. »Als Sie in die Zelle gekommen sind«, sagte Miroljubow und sah zu Krist auf, »hat sich das Leben verändert. Die Spiele bekamen mehr Sinn. Nicht wie dieses schreckliche ›Käferchen‹, für das sich alle begeisterten. Sie warteten sogar auf die Latrine, um auf dem Abort nach Herzenslust ›Käferchen‹ zu spielen. Wahrscheinlich haben Sie Erfahrung ...«
    »Ja«, sagte Krist traurig und fest.
    Miroljubow sah Krist an mit seinen gewölbten, guten, kurzsichtigen Augen.
    »Die Brille haben mir die Ganoven abgenommen. In der Taganka.«
    Krist schossen rasch und gewohnheitsmäßig Fragen, Annahmen, Ahnungen durchs Hirn ... Er sucht einen Rat. Er weiß nicht, wofür er verhaftet wurde. Übrigens ...
    »Und warum wurden Sie von der Taganka hierher verlegt?«
    »Ich weiß es nicht. Kein einziges Verhör in zwei Monaten. Und in der Taganka ... Ich war ja als Zeuge in einem Verfahren über Wohnungsdiebstahl vorgeladen. In unserer Wohnung wurde einem Nachbarn ein Mantel gestohlen. Ich wurde verhört und erhielt einen Haftbefehl ... Abrakadabra. Kein Wort – jetzt schon den dritten Monat. Und man hat mich in die Butyrka verlegt.«
    »Tja«, sagte Krist. »Fassen Sie sich in Geduld. Bereiten Sie sich auf Überraschungen vor. Das ist gar kein solches Abrakadabra. Planmäßige Verwirrung, wie das der Kritiker Ijuda Grossman-Roschtschin nannte! Erinnern Sie sich an ihn? Den Kampfgefährten Machnos ?«
    »Nein, ich erinnere mich nicht«, sagte der Doktor. Miroljubows Hoffnung auf Krists Allwissenheit war versiegt, und der Glanz in seinen Augen erlosch.
    Die kunstvollen Webmuster des Drehbuchs der Untersuchung waren sehr, sehr vielfältig. Das war Krist bekannt. Die Hinzuziehung in einem Verfahren um einen Wohnungsdiebstahl – selbst als Zeuge – erinnerte an die berühmten »Amalgame«. Jedenfalls waren Doktor Miroljubows Taganka-Abenteuer eine Ermittler-Tarnung, die die Poeten vom NKWD weiß Gott wozu brauchten.
    »Reden wir, Walerij Andrejewitsch, von etwas anderem. Vom schönsten Tag im Leben. Vom aller-, allerherausragendsten Ereignis in Ihrem Leben.«
    »Ja, ich habe es gehört, habe Ihr Gespräch gehört. Bei mir gab es so ein Ereignis, das mein gesamtes Leben verändert hat. Aber alles, was mir geschehen ist, gleicht weder der Geschichte Aleksandr Georgijewitschs«, Miroljubow neigte sich nach links zum Generalsekretär der Vereinigung der politischen
katorga
-Häftlinge, »noch der Geschichte dieses Genossen«, Miroljubow neigte sich nach rechts, zum Mechaniker aus Wolokolamsk ... »1901 war ich Medizinstudent im ersten Jahr, an der Moskauer Universität. Ich war jung. Voller erhabener Gedanken. Dumm. Einfältig.«
    »Ein ›
loch
‹, wie die Ganoven sagen«, soufflierte ihm Krist.
    »Nein, kein ›
loch
‹. Seit der Taganka verstehe ich ein bißchen Gaunersprache. Und woher haben Sie sie?«
    »Im Selbstunterricht gelernt«, sagte Krist.
    »Nein, kein ›
loch
‹, sondern so ein ... ›
gaudeamus
‹. Verstehen Sie? Das war ich.«
    »Zur Sache, kommen Sie zu Sache, Walerij Andrejewitsch«, sagte der Mechaniker aus Wolokolamsk.
    »Ich komme sofort zur Sache. Wir haben hier so wenig freie Zeit ... Ich lese die Zeitung. Eine große Anzeige. Die Fürstin Gagarina hat ihr Brillantkollier verloren. Aus dem Familienschatz. Der Finder bekommt fünftausend Rubel. Ich lese die Zeitung, knülle sie zusammen, werfe sie in den Mülleimer. Im Gehen denke ich: wenn ich jetzt dieses Kollier finden könnte. Die Hälfte würde ich meiner Mutter schicken. Für die andere Hälfte würde ich ins Ausland fahren. Mir einen guten Mantel kaufen. Ein Abonnement fürs Kleine Theater. Das Künstlertheater gab es damals noch nicht. Ich laufe den Nikitskij Boulevard entlang. Nicht einmal den Boulevard, sondern auf den Bohlen des Holztrottoirs – da war ein Nagel, der immer herausstach, wenn man darüberlief. Ich mache einen Schritt auf die Erde, um den Nagel zu umgehen, und schaue – im Straßengraben ... Kurz, ich hatte das Kollier gefunden. Saß auf dem Boulevard und träumte. Dachte an mein künftiges Glück. Ich ging nicht in die Universität, ich ging an den Mülleimer, zog die

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