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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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das alles her«, seufzte das Akademiemitglied.
    »Nein«, sagte der Journalist. »Ich bin nicht jener Golubew. Ich weiß, von wem Sie sprechen. Jener Golubew ist im Jahre achtunddreißig gestorben.«
    Und Golubew sah mit festem Blick in die flinken schwarzen Augen des Akademiemitglieds.
    Das Akademiemitglied gab einen undeutlichen Ton von sich, den man als Mitgefühl, Verständnis, Bedauern werten sollte.
    Golubew schrieb ohne Atempause. Die französische Redensart über den Wein hatte er nicht sofort verstanden. Er hatte die Sprache gekonnt und sie vergessen, schon lange vergessen, und jetzt krochen die unbekannten Worte durch sein erschöpftes, vertrocknetes Hirn. Der Kauderwelschsatz kroch langsam, wie auf allen vieren, durch die dunklen Winkel des Gehirns, machte halt, sammelte Kräfte und kroch bis in eine beleuchtete Ecke, und unter Furcht und Schmerz verstand Golubew seine russische Bedeutung. Es ging nicht um seinen Inhalt, sondern darum, daß er ihn verstand – er eröffnete, entdeckte ihm gleichsam einen neuen Bereich des Vergessenen, in dem ebenfalls alles wiederhergestellt, befestigt, hochgeholt werden mußte. Doch ihm fehlten die Kräfte – moralisch wie physisch, und es schien erheblich leichter, sich an gar nichts Neues zu erinnern. Kalter Schweiß trat dem Journalisten auf den Rücken. Er hatte das starke Bedürfnis zu rauchen, aber die Ärzte hatten ihm den Tabak verboten – ihm, der vierzig Jahre geraucht hat. Sie hatten es verboten, und er hatte es aufgegeben – hatte gekniffen, wollte plötzlich leben. Den Willen hätte er nicht gebraucht, um das Rauchen aufzugeben, sondern um den Rat der Ärzte zu überhören.
    Ein weiblicher Kopf in Friseurhaube zeigte sich in der Tür. »Dienstleistungen im Haus«, vermerkte der Journalist.
    »Entschuldigung«, das Akademiemitglied stand vom Flügel auf und schlüpfte aus dem Zimmer, die Tür fest anlehnend.
    Golubew schwenkte die eingeschlafene Hand und spitzte den Bleistift an. Aus dem Flur hörte man die Stimme des Akademiemitglieds – energisch, nicht zu schroff, von niemandem unterbrochen, ohne Antwort.
    »Der Chauffeur«, erklärte das Akademiemitglied, im Zimmer zurück, »kann einfach nicht begreifen, zu welcher Zeit er das Auto vorfahren soll ... Machen wir weiter«, sagte das Akademiemitglied, sich hinter den Flügel stellend und darüber gebeugt, damit Golubew hören konnte. »Der zweite Teil, das sind die Fortschritte der Informationstheorie, der Elektronik, der mathematischen Logik – kurz, all dessen, was man gemeinhin Kybernetik nennt.«
    Die forschenden schwarzen Augen begegneten den Augen Golubews, doch der Journalist blieb gleichmütig. Das Akademiemitglied fuhr munter fort:
    »In dieser modischen Wissenschaft waren wir zuerst ein wenig hinter dem Westen zurückgeblieben, aber wir haben schnell aufgeholt und jetzt sind wir allen voraus. Wir denken an die Einrichtung von Lehrstühlen für mathematische Logik und Spieltheorie.«
    »Spieltheorie?«
    »Genau: sie nennt sich auch Monte Carlo-Theorie «, sagte das Akademiemitglied gedehnt und mit Zäpfchen-R. »Wir halten mit dem Jahrhundert Schritt. Übrigens, Sie ...«
    »Die Journalisten haben niemals mit dem Jahrhundert Schritt gehalten«, sagte Golubew »Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern ...«
    Golubew rückte den Aschenbecher mit dem Mephistokopf weiter.
    »Dieser Aschenbecher ist mir ins Auge gestochen«, sagte er.
    »Aber nicht doch«, sagte das Akademiemitglied. »Ein Zufallskauf. Ich bin ja kein Sammler, kein ›amateur‹, wie die Franzosen sagen, das Auge erholt sich einfach auf Ton.«
    »Natürlich, natürlich, eine herrliche Beschäftigung«, Golubew wollte sagen »Unterhaltung«, aber er mied den »u«-Laut , damit die Zahnprothese nicht herausfiel, die er ganz kürzlich erhalten hatte. Die Prothese vertrug den »u«-Laut nicht. »Dann danke ich Ihnen«, sagte Golubew, stand auf und legte die Zettel zusammen. »Ich wünsche Ihnen alles Gute. Wir schicken die Fahnen.«
    »Falls etwas ist«, sagte das Akademiemitglied und verzog das Gesicht, »sollen sie in der Redaktion das Nötige selbst ergänzen. Ich bin ja ein Mann der Wissenschaft, vielleicht nicht auf dem Laufenden.«
    »Keine Sorge. Sie werden alles in den Fahnen sehen.«
    »Viel Erfolg.«
    Das Akademiemitglied begleitete den Journalisten in den Flur, machte Licht und sah teilnahmsvoll zu, wie Golubew sich den viel zu neuen, störrischen Mantel überzog. Der linke Arm traf nur mühsam den linken Mantelärmel, und

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