Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Golubew wurde vor Anstrengung rot.
»Der Krieg?«, fragte das Akademiemitglied mit höflicher Aufmerksamkeit.
»Nicht ganz«, sagte Golubew. »Nicht ganz«. Und er trat hinaus auf die Marmortreppe.
Die Schultergelenke hatte man Golubew bei Verhören im Jahr achtunddreißig zerrissen.
1961
Die Diamantenkarte
Im Jahr einunddreißig an der Wischera waren Gewitter häufig.
Kurze gerade Blitze zerhackten den Himmel wie Schwerter. Das Kettenhemd des Regens funkelte und tönte; die Felsen glichen Schloßruinen.
»Mittelalter«, sagte Willemson und sprang vom Pferd. »Kähne, Klepper, Klippen ... Machen wir Pause bei Robin Hood.«
Ein mächtiger zweibeiniger Baum stand auf der Anhöhe. Wind und Alter hatten den Stämmen der beiden verwachsenen Pappeln die Rinde abgerissen – der nackte Gigant in kurzen Hosen sah wirklich aus wie der schottische Held. Robin Hood tobte und fuchtelte mit den Armen.
»Exakt zehn Werst bis zum Haus«, sagte Willemson und band die Pferde an Robin Hoods rechtes Bein. Wir hatten uns vor dem Regen in der kleinen Höhle unter dem Stamm untergestellt und rauchten.
Der Chef des Geologentrupps, Willemson, war kein Geologe. Er war bei der Kriegsflotte gewesen, Kommandant eines Unterseeboots. Das Boot war vom Kurs abgekommen und am finnischen Ufer aufgetaucht. Die Besatzung ließ man ziehen, aber den Kommandanten hielt Mannerheim ein volles halbes Jahr in der Spiegelzelle. Schließlich wurde Willemson freigelassen und fuhr nach Moskau. Neurologen und Psychiater bestanden auf seiner Demobilisierung, Willemson sollte an der frischen Luft arbeiten, im Wald, in den Bergen. So wurde er Chef einer geologischen Schürfungsgruppe.
Von der letzten Anlegestelle fuhren wir zehn Tage lang den Bergfluß hinauf – mit Stangen stießen wir den Espenkahn von den Ufern ab. Schon den fünften Tag ritten wir, weil kein Fluß mehr da war – nur das steinige Bett war geblieben. Einen weiteren Tag liefen die Pferde auf einem Lastpfad durch die Tajga, und der Weg erschien unendlich.
In der Tajga ist alles überraschend, alles ein Ereignis: der Mond, die Sterne, ein Tier, ein Vogel, ein Mensch, ein Fisch. Unmerklich hatte sich der Wald gelichtet, waren die Büsche auseinandergetreten, der Pfad zu einem Weg geworden, und vor uns stand ein riesiger moosbedeckter Ziegelbau ohne Fensterscheiben. Die runden leeren Fenster sahen aus wie Schießscharten.
»Wo kommt der Ziegelstein her?«, fragte ich, verblüfft von dem ungewöhnlich alten Gebäude tief in der Tajga.
»Bravo!«, rief Willemson und hielt die Pferde an. »Du hast es gemerkt! Morgen wirst du alles verstehen!«
Aber auch am nächsten Tag verstand ich nichts. Wir waren wieder unterwegs, galoppierten einen seltsam geraden Waldweg entlang. Junges Birkengehölz kreuzte hier und da unseren Weg, Fichten reichten einander von beiden Seiten die alten struppigen Tatzen, die vom Alter rötlichen, aber der blaue Himmel wurde von den Zweigen keinen Moment verdeckt. Ein mit rotem Rost bewachsener Waggonradsatz wuchs aus der Erde wie ein Baum ohne Äste und Blätter. Wir hielten die Pferde an.
»Das ist eine Schmalspurbahn«, sagte Willemson. »Sie ging von der Fabrik bis zum Lagerhaus – dort, dem Ziegelbau. Also, hör zu. Hier gab es einmal, noch unter dem Zaren, eine belgische Eisenerzkonzession. Die Fabrik, zwei Hochöfen, Schmalspurbahn, Siedlung, Schule, Sängerinnen aus Wien. Die Konzession warf hohe Gewinne ab. Das Eisen wurde auf Barken bei Hochwasser geflößt – im Frühjahr und im Herbst. Die Konzession lief bis 1912. Russische Industrielle mit dem Fürsten Lwow an der Spitze, denen die märchenhaften Profite der Belgier den Schlaf raubten, baten den Zaren, das Ganze ihnen zu übertragen. Mit Erfolg – den Belgiern wurde die Konzession nicht verlängert. Die Erstattung ihrer Aufwendungen lehnten die Belgier ab. Sie gingen. Zuvor aber sprengten sie alles, die Fabrik und die Hochöfen, in der Siedlung blieb kein Stein auf dem anderen. Selbst die Schmalspurbahn wurde bis auf den letzten Schienenstoß zerlegt. Man mußte alles von vorn beginnen. Fürst Lwow war von etwas anderem ausgegangen. Ehe man neu hatte anfangen können – der Krieg. Dann – Revolution und Bürgerkrieg. Und heute, 1930, sind wir hier. Da sind die Hochöfen«, Willemson zeigte irgendwo nach rechts, doch außer ungestümem Grün sah ich nichts. »Und da ist auch die Fabrik«, sagte Willemson.
Vor uns lag eine große, nicht sehr tiefe Schlucht, ein Tal, ganz mit jungem Wald bewachsen.
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