Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
bitte um Entschuldigung.«
»Aber nicht doch, nicht doch«, sagte das Akademiemitglied höflich. »Die erste Frage formuliere ich ... Reicht es so?«
»Ja, ich danke Ihnen.«
»Also, die erste Frage ...«
Die schwarzen unsteten Augen des Akademiemitglieds schauten auf Golubews Hände. Golubew verstand, vielmehr verstand er nicht, sondern spürte mit dem ganzen Körper, was das Akademiemitglied dachte. Es dachte, daß der zu ihm geschickte Journalist nicht stenographieren kann. Das kränkte das Akademiemitglied ein wenig. Natürlich gibt es Journalisten, die nicht stenographieren können, besonders unter den Älteren. Das Akademiemitglied schaute in das dunkle faltige Gesicht des Journalisten. Die gibt es natürlich. Aber in solchen Fällen schickt die Redaktion doch eine zweite Person – eine Stenographin. Sie hätte auch nur die Stenographin schicken können – ohne den Journalisten –, das wäre noch besser gewesen. »Natur und All« zum Beispiel schickt ihm immer nur die Stenographin. Denn die Redaktion, die ihm diesen älteren Journalisten schickt, glaubt doch nicht, daß der Journalist ihm, dem Akademiemitglied, scharfsinnige Fragen stellen könnte. Von scharfsinnigen Fragen kann keine Rede sein. Und konnte es niemals. Ein Journalist, das ist ein diplomatischer Kurier, dachte das Akademiemitglied – wenn nicht einfach ein Kurier. Das Akademiemitglied verliert seine Zeit, weil keine Stenographin da ist. Eine Stenographin, das ist elementar, das ist, wenn Sie so wollen, eine Höflichkeit der Redaktion. Die Redaktion verhielt sich ihm gegenüber unhöflich.
Im Westen zum Beispiel – da kann jeder Journalist stenographieren und Schreibmaschine schreiben. Aber hier – wie vor hundert Jahren, irgendwo in Nekrassows Kabinett. Welche Zeitschriften gab es vor hundert Jahren? Außer an den »Zeitgenossen« kann er sich an keine erinnern, aber wahrscheinlich gab es sie doch.
Das Akademiemitglied war ein empfindlicher Mensch, ein äußerst sensibler Mensch. Im Handeln der Redaktion schien ihm Geringschätzung zu liegen. Außerdem – das wußte er aus Erfahrung – verändern Stichworte unweigerlich das Gespräch. Man muß viel Arbeit auf die Korrektur verwenden. Und auch jetzt: für das Gespräch war eine Stunde vorgesehen – mehr als eine Stunde kann das Akademiemitglied nicht, es hat nicht das Recht: seine Zeit ist kostbarer als die Zeit des Journalisten und der Redaktion.
So dachte das Akademiemitglied, als es die üblichen Sätze des Interviews diktierte. Übrigens ließ er sich keineswegs anmerken, daß er verärgert oder erstaunt war. »Wenn der Wein im Glas ist, muß du trinken«, erinnerte er sich an eine französische Redensart. Das Akademiemitglied dachte auf Französisch – von allen Sprachen, die er kannte, mochte er das Französische am liebsten – die besten wissenschaftlichen Zeitschriften in seinem Fach, die besten Kriminalromane ... Das Akademiemitglied sprach den französischen Satz laut aus, doch der Journalist, der nicht stenographieren konnte, reagierte nicht darauf – das hatte das Akademiemitglied auch erwartet.
»Ja, der Wein ist im Glas«, dachte das Akademiemitglied beim Diktieren, »die Entscheidung ist gefallen, die Sache begonnen«, und es gehörte nicht zu den Gewohnheiten des Akademiemitglieds, auf halbem Wege stehenzubleiben. Er beruhigte sich und sprach weiter.
Letztendlich ist das eine Art technisches Problem: genau eine Stunde zu brauchen, langsam zu diktieren, damit der Journalist mitkommt, und laut genug – nicht so laut, wie im Institut vom Katheder, nicht so laut wie auf Friedenskongressen, aber wesentlich lauter als in seinem Kabinett – etwa so, wie bei Lehrveranstaltungen im Labor. Als es sah, daß all diese Probleme erfolgreich gelöst und die ärgerlichen unvermuteten Schwierigkeiten besiegt waren, kam das Akademiemitglied in Stimmung.
»Verzeihen Sie«, sagte das Akademiemitglied, »sind Sie nicht jener Golubew, der zu meiner Jugendzeit viel publiziert hat, zu meiner wissenschaftlichen Jugend, Anfang der dreißiger Jahre? Seine Artikel wurden damals von allen jungen Wissenschaftlern verfolgt. Ich erinnere mich wie heute an den Titel eines seiner Artikel, ›Die Einheit von Wissenschaft und schöner Literatur‹. In jenen Jahren«, das Akademiemitglied lächelte und zeigte seine gut reparierten Zähne, »waren solche Themen in Mode. Der Artikel würde auch heute taugen für ein Gespräch mit dem Kybernetiker Poletajew über Physiker und Lyriker . Lange ist
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