Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
In der Mitte hatte die Schlucht einen Buckel, und der Buckel erinnerte dunkel an das Gerippe eines zerstörten Gebäudes. Die Tajga hatte die Reste der Farbik überzogen, und auf einem abgebrochenen Schornstein saß, wie auf dem Gipfel eines Felses, ein brauner Habicht.
»Man muß es wissen, um zu sehen, daß hier eine Fabrik stand«, sagte Willemson. »Eine Fabrik ohne Menschen. Hervorragende Arbeit. Nur zwanzig Jahre. Zwanzig Generationen Kraut: Porree, Riedgras, Weidenröschen ... Und vorbei mit der Zivilisation. Und der Habicht sitzt auf dem Fabrikschornstein.«
»Beim Menschen ist dieser Weg wesentlich länger«, sagte ich.
»Wesentlich kürzer«, sagte Willemson. »An Menschengenerationen braucht es weniger.« Und ohne anzuklopfen, öffnete er die Tür der nächstgelegenen Hütte.
Ein silberhäuptiger riesiger Greis in einem schwarzen Flauschgehrock von altmodischem Schnitt und mit goldener Brille saß an einem groben, behobelten, weißgescheuerten Tisch. Die bläulichen gichtigen Finger hielten den dunklen Einband eines dicken, ledergebundenen Buchs mit silbernen Spangen umfaßt. Blaue Augen mit roten Greisenäderchen schauten uns ruhig an.
»Guten Tag, Iwan Stepanowitsch«, sagte Willemson im Näherkommen. »Ich habe Ihnen einen Gast mitgebracht.« Ich verbeugte mich.
»Grabt ihr immer noch?«, krächzte der Greis mit der goldenen Brille. »Umsonst, umsonst. Wir würden euch Tee anbieten, Burschen, aber alle sind unterwegs. Die Frauen sind mit den Kleinen in die Beeren gegangen, und die Söhne auf der Jagd. Darum – verzeiht. Für mich ist das eine besondere Zeit«, und Iwan Stepanowitsch pochte mit dem Finger auf das dicke Buch. »Übrigens, ihr stört mich nicht.«
Die Spange schnappte, und das Buch wurde geöffnet.
»Was ist das für ein Buch?«, fragte ich unwillkürlich.
»Die Bibel, mein Sohn. Andere Bücher halte ich schon zwanzig Jahre nicht mehr im Haus ... Ich höre lieber zu, als zu lesen, meine Augen sind schwach geworden.«
Ich nahm die Bibel in die Hand. Iwan Stepanowitsch lächelte. Das Buch war in französischer Sprache.
»Ich kann kein Französisch.«
»Eben, eben«, sagte Iwan Stepanowitsch und knisterte mit den Seiten. Wir gingen.
»Wer ist denn das?«, fragte ich Willemson.
»Ein Buchhalter, der der Welt die Stirn bietet. Iwan Stepanowitsch Bugrejew, der der Zivilisation den Kampf angesagt hat. Er ist der einzige, der seit neunzehnhundertzwölf in diesem Dickicht ausharrt. Er war bei den Belgiern Hauptbuchhalter. Die Zerstörung der Fabriken hat ihn so erschüttert, daß er zum Rousseau-Anhänger wurde. Sehen Sie, was für ein Patriarch. Er wird vielleicht siebzig sein. Acht Söhne. Töchter hat er keine. Seine alte Frau. Die Enkel. Die Kinder können lesen und schreiben. Sie haben die Schule noch abgeschlossen. Den Enkeln lesen und schreiben beizubringen läßt der Alte nicht zu. Fischfang, Jagd, ein bißchen Küchengarten, die Bienen und die französische Bibel in Großvaters Nacherzählung – das ist ihr Leben. Etwa vierzig Werst von hier gibt es eine Siedlung, eine Schule, einen Laden. Ich bin hinter ihm her – es gibt Gerüchte, daß er eine Bodenkarte der hiesigen Gegend hütet – sie ist von der belgischen Schürfung geblieben. Vielleicht ist das wahr. Die Schürfungen gab es ja, ich habe selbst in der Tajga alte Schürfgräben gefunden. Der Greis gibt die Karte nicht her. Er will uns die Arbeit nicht abkürzen. Wir müssen ohne sie auskommen.«
Wir übernachteten in der Hütte von Iwan Stepanowitschs ältestem Sohn, Andrej. Andrej Bugrejew war etwa vierzig.
»Warum kommst du nicht als Schürfer zu mir?«, sagte Willemson.
»Vater stimmt nicht zu«, sagte Andrej Bugrejew.
»Du würdest Geld verdienen!«
»Wir haben doch Geld genug. Hier ist es ja reich an Getier. An Holzeinschlägen auch. Und auch in der Wirtschaft ist viel zu tun – Großvater macht ja für jeden einen Plan. Einen Dreijahresplan«, Andrej lächelte.
»Hier hast du eine Zeitung.«
»Lieber nicht. Vater erfährt davon. Und ich habe das Lesen auch fast verlernt.«
»Und dein Sohn? Er wird doch fünfzehn.«
»Wanjuschka kann gar nicht lesen. Sagt es dem Vater, was redet ihr mit mir.« Und Andrej Iwanowitsch zog sich grimmig die Stiefel aus. »Stimmt das denn, daß hier eine Schule gebaut wird?«
»Ja. In einem Jahr wird sie eröffnet. Aber du willst ja nicht für die Schürfung arbeiten. Mir ist jeder Mensch teuer.«
»Und wo sind deine Leute?«, sagte Andrej Iwanowitsch und wechselte
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