Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
delikat das Gesprächsthema.
»An der Roten Quelle. Wir graben entlang den alten Schürfungen. Iwan Stepanowitsch hat ja eine Karte, was, Andrej?«
»Gar keine Karte hat er. Das sind alles Lügengeschichten. Dummes Geschwätz.«
Plötzlich schob sich das aufgeregte und gereizte Gesicht von Marja, Andrejs Frau, ins Licht:
»Hat er wohl! Wohl! Wohl!«
»Marja!«
»Wohl! Wohl! Vor zehn Jahren habe ich sie selbst gesehen.«
»Marja!«
»Wozu zum Teufel diese verdammte Karte hüten? Warum kann Wanjuschka nicht lesen und schreiben? Wir leben wie die Tiere. Bald überwächst uns das Gras!«
»Das überwächst euch nicht«, sagte Willemson. »Es wird eine Siedlung geben. Eine Stadt. Eine Fabrik. Leben! Auch wenn es keine Wiener Tingeltangel-Sängerinnen geben wird, aber dafür Schulen und Theater. Dein Wanjuschka wird noch Ingenieur.«
»Nein, nein«, Marja fing an zu weinen. »Für ihn ist schon Zeit zu heiraten. Wer nimmt ihn denn als Analphabeten?«
»Was ist das für ein Lärm?«, Iwan Stepanowitsch stand auf der Schwelle. »Du, Marja, geh zu dir, es ist Schlafenszeit. Andrej, du gibst schlecht acht auf deine Frau. Und Ihr, gute Bürger, tragt keinen Zwist in meine Familie. Ich habe die Karte, und ich gebe sie nicht heraus – das alles braucht man nicht zum Leben.«
»Wir brauchen Ihre Karte nicht unbedingt«, sagte Willemson. »Ein Jahr Arbeit, und wir haben unsere eigene gezeichnet. Die Schätze sind entdeckt. Morgen bringt Wassiltschikow die Zeichnungen – wir werden Holz einschlagen für die Siedlung.«
Iwan Stepanowitsch schlug die Tür zu und ging. Eilig legten sich alle schlafen.
Ich wachte auf von der Gegenwart vieler Menschen. Die Morgendämmerung trat vorsichtig ins Zimmer. Willemson saß an der Wand direkt auf dem Boden, die schmutzigen nackten Füße ausgestreckt, und um ihn herum atmete laut die gesamte Familie Bugrejew, alle acht Söhne, acht Schwiegertöchter, zwanzig Enkel und fünfzehn Enkelinnen. Enkel und Enkelinnen atmeten übrigens irgendwo auf der Vortreppe. Es fehlten nur Iwan Stepanowitsch und seine alte Frau – die spitznasige Serafima Iwanowna.
»Sie kommt also?«, fragte Andrejs atemlose Stimme.
»Sie kommt.«
»Ja, und er?« Alle Bugrejews seufzten tief und erstarben.
»Was denn, er?«, fragte Willemson fest.
»Großvater wird sterben«, sagte Andrej klagend, und alle Bugrejews seufzten wieder.
»Vielleicht stirbt er auch nicht«, sagte Willemson unschlüssig.
»Und Großmama wird sterben.« Und die Schwiegertöchter brachen in Tränen aus.
»Die Mutter wird auf keinen Fall sterben«, versicherte Willemson und fügte hinzu: »Übrigens ist sie eine alte Frau.«
Plötzlich begannen alle zu lärmen und sich zu rühren. Die jüngeren Enkel huschten in die Büsche, die Schwiegertöchter eilten in ihre Hütten. Von der großväterlichen Hütte kam langsam Iwan Stepanowitsch auf uns zu, er hielt in beiden Händen ein riesiges schmutziges, nach Erde riechendes Papierbündel.
»Hier ist die Karte.« Iwan Stepanowitsch hielt die zusammengepreßten Pergamentblätter in den Händen, und seine Finger zitterten. Hinter seinem mächtigen Rücken schaute Serafima Iwanowna hervor. »Ich gebe sie heraus. Zwanzig Jahre. Sima , verzeih, Andrej, Pjotr, Nikolaj und alle Verwandten, verzeiht.« Bugrejew brach in Tränen aus.
»Schon gut, schon gut, Iwan Stepanowitsch«, sagte Willemson. »Reg dich nicht auf. Sei froh und nicht betrübt.« Und er befahl mir, mich in Bugrejews Nähe zu halten. Der Alte gedachte keineswegs zu sterben. Er beruhigte sich schnell, sah jünger aus, nahm mich, Willemson und Wassiltschikow um die Schulter und schwatzte vom Morgen bis zum Abend – er erzählte die ganze Zeit von den Belgiern, wie was war, wo es stand, welche Gewinne die Herren machten. Das Gedächtnis des Alten war gut.
In dem nach Erde riechenden Pergamentpapierbündel war eine Bodenkarte dieser Gegend, von den Belgiern erstellt. Die Erze: Gold, Eisen ... Die Edelsteine: Topas, Türkis, Aquamarin ... Die Edelsteine: Achat, Jaspis, Bergkristall, Malachit ... Nur jene Steine fehlten, um derentwillen Willemson hergekommen war.
Die Diamantenkarte gab Iwan Stepanowitsch nicht heraus. Diamanten fand man an der Wischera erst dreißig Jahre später.
‹1959›
Der Unbekehrte
Ich hüte mein altes zusammenklappbares Stethoskop sorgsam. Es ist ein Geschenk vom Abschlußtag des Feldscherlehrgangs im Lager – von Nina Semjonowna, der Leiterin des Praktikums in der Inneren Medizin.
Dieses Stethoskop
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