Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Akademiemitglieds vor.
Die Korrekturfahnen des Artikels wurden mit einem eigenen Flugzeugkurier nach Jalta geschickt und kamen übersät mit Verbesserungen des Akademiemitglieds in die Redaktion zurück.
»Wie bei Balzac«, sagte der Redaktionsleiter betrübt. Alles war eingerichtet, abgestimmt, korrigiert. Das behäbige Vehikel der Verlagstechnik war auf die breite Spur ausgefahren. Doch zum Zeitpunkt des Umbruchs flog schon Lajka durch den Kosmos, und das Akademiemitglied schickte aus Rumänien, wo es auf einem Friedenskongreß weilte, neue Telegramme, beschwörende, fordernde. Die Redaktion meldete dringliche Auslandsgespräche mit Bukarest an.
Schließlich erschien die Zeitschrift, und die Redaktion verlor sofort das Interesse an dem Artikel des Akademiemitglieds.
Aber all das war später, und jetzt stieg der Journalist Golubew die schmale Marmortreppe des riesigen Hauses in der Hauptstraße der Stadt hinauf, wo das Akademiemitglied wohnte. Das Haus war genauso alt wie der Journalist. Es war während des Baubooms zu Beginn des Jahrhunderts erbaut worden. Gewerbliche Wohnungen: Badewanne, Gas, Telefon, Kanalisation, Elektrizität.
Im Aufgang stand der Tisch des Pförtners. Die elektrische Glühbirne war so angebracht, daß das Licht auf das Gesicht der Eintretenden fiel. Das erinnerte irgendwie an das Untersuchungsgefängnis.
Golubew nannte den Namen des Akademiemitglieds, der Pförtner rief an, erhielt Antwort, sagte dem Journalisten »bitte sehr« und öffnete vor Golubew die bronzegußverzierten Türen des Lifts.
»Passierscheinbüro«, dachte Golubew träge. Wie auch immer, Passierscheinbüros hatte er in seinem Leben so manche gesehen.
»Das Akademiemitglied wohnt in der sechsten Etage«, teilte der Pförtner ehrfürchtig mit. Sein Gesicht zeigte kein Erstaunen, als Golubew an der geöffneten Lifttür vorbeiging und die saubere schmale Marmortreppe ansteuerte. Den Lift konnte Golubew nach seiner Krankheit nicht ertragen – weder aufwärts, noch abwärts, besonders das Abwärtsfahren mit seiner tückischen Schwerelosigkeit.
Mit einer Atempause auf jedem Absatz stieg Golubew bis zur sechsten Etage. Das Rauschen in den Ohren hatte sich etwas gelegt, der Herzschlag war gleichmäßiger geworden, der Atem ruhiger. Golubew stand einen Moment vor der Tür des Akademiemitglieds, streckte die Hände vor und machte vorsichtig einige gymnastische Kopfbewegungen – so hatten es die Ärzte empfohlen, die den Journalisten behandelten.
Golubew hielt mit dem Kopfdrehen inne, fühlte in seiner Tasche nach Taschentuch, Füller und Notizblock und klingelte mit fester Hand.
Das populäre Akademiemitglied öffnete selbst. Er war jung, rührig, hatte flinke schwarze Augen und sah erheblich jünger und frischer aus als Golubew Vor dem Gespräch hatte der Journalist in der Bibliothek enzyklopädische Lexika und auch einige Biographien des Akademiemitglieds – als Deputierter und als Wissenschaftler – durchgeschaut, und er wußte, daß er, Golubew, und das Akademiemitglied gleichaltrig waren. Beim Durchblättern von Artikeln zu Fragen des bevorstehenden Gesprächs war Golubew aufgefallen, daß das Akademiemitglied von seinem wissenschaftlichen Olymp Donner und Blitze auf die Kybernetik geschleudert hatte, die er als »äußerst schädliche idealistische Quasiwissenschaft« bezeichnete. »Militante Pseudowissenschaft« – so hatte sich das Akademiemitglied vor zwei Jahrzehnten geäußert. Das Gespräch, um dessentwillen Golubew zum Akademiemitglied fuhr, sollte nämlich die heutige Bedeutung der Kybernetik betreffen.
Das Akademiemitglied machte Licht, damit Golubew ablegen konnte.
In dem riesigen Spiegel mit Bronzerahmen, der im Flur stand, spiegelten sie sich beide – das Akademiemitglied im schwarzen Anzug und mit schwarzer Krawatte, schwarzhaarig, schwarzäugig, glattgesichtig, wendig, und die aufrechte Figur Golubews und sein erschöpftes Gesicht mit den vielen Falten, die wie tiefe Narben aussahen. Doch Golubews blaue Augen funkelten wahrscheinlich jünger als die blanken lebhaften Augen des Akademiemitglieds.
Golubew hängte seinen steifen, ganz neuen, erst kürzlich gekauften Kunstledermantel an die Garderobe. Neben dem abgeschabten braunen, mit Waschbärpelz gefütterten Ledermantel des Akademiemitglieds sah er durchaus anständig aus.
»Bitte sehr«, sagte das Akademiemitglied und öffnete die Tür nach links. »Und bitte entschuldigen Sie mich. Ich bin sofort wieder da.«
Der Journalist sah sich um.
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