Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
ist Symbol und Zeichen meiner Rückkehr ins Leben, Versprechen der Freiheit, Versprechen des Freiseins – ein erfülltes Versprechen. Übrigens sind Freisein und in Freiheit sein verschiedene Dinge. Ich war niemals in Freiheit, ich war nur frei all meine Erwachsenenjahre. Aber das war später, viel später als an jenem Tag, an dem ich dieses Geschenk entgegennahm, mit ein wenig heimlichem Schmerz, mit ein wenig heimlicher Traurigkeit, so als hätte nicht ich, sondern jemand anderes dieses Stethoskop bekommen sollen – das Symbol und Zeichen meines größten Sieges, meines größten Erfolgs im Hohen Norden, an der Grenze von Tod und Leben. Ich spürte all das deutlich – ich weiß nicht, ob ich es verstand, aber ich spürte es zweifellos, als ich das Stethoskop neben mir auf die schäbige Lagerdecke legte, eine ehemalige Soldatendecke im zweiten oder schon dritten Einsatz, die man den Lehrgangsteilnehmern gab. Ich streichelte das Stethoskop mit den abgefrorenen Fingern, und die Finger begriffen nicht – war das Holz oder Eisen. Einmal zog ich aus dem Sack, dem eigenen Sack, blind tastend das Stethoskop anstelle des Löffels. Und in diesem Fehler lag ein tiefer Sinn.
Ehemalige Gefangene, die es im Lager leicht hatten – wenn das Lager für irgend jemanden leicht sein kann –, halten für die schwerste Zeit in ihrem Leben die Rechtlosigkeit nach dem Lager, das Umherwandern nach dem Lager, wenn es einfach nicht gelang, eine Stabilität im Alltag zu finden – eben jene Stabilität, die ihnen im Lager half zu überleben. Diese Leute hatten sich irgendwie an das Lager angepaßt, und das Lager hatte sich ihnen angepaßt und gab ihnen Essen, ein Dach und Arbeit. Sie mußten ihre Gewohnheiten radikal ändern. Die Menschen sahen das Scheitern ihrer Hoffnungen, die so bescheiden waren. Doktor Kalembet, der die fünf Jahre seiner Lagerhaft abgesessen hatte, kam mit dem Leben in Freiheit nicht zurecht und brachte sich nach einem Jahr um, er hinterließ einen Zettel: »Die Dummköpfe lassen mich nicht leben.« Doch es lag nicht an den Dummköpfen. Ein anderer Arzt, Doktor Miller, hatte den ganzen Krieg über mit erstaunlicher Energie versucht nachzuweisen, daß er kein Deutscher sei, sondern Jude – er schrie es an jeder Ecke heraus, in jedem Fragebogen. Es gab noch einen dritten, Doktor Braude – er saß drei zusätzliche Jahre wegen seines Namens. Doktor Miller wußte, daß das Schicksal nicht zu scherzen liebt. Doktor Miller konnte nachweisen, daß er kein Deutscher ist. Doktor Miller wurde pünktlich entlassen. Doch schon nach dem ersten Jahr von Doktor Millers Leben in Freiheit wurde er des Kosmopolitismus beschuldigt. Übrigens wurde Doktor Miller nicht sofort beschuldigt. Sein verständiger Chef, der Zeitungen las und die schöne Literatur verfolgte, lud Doktor Miller zu einem Vorgespräch ein. Denn Befehl ist Befehl, doch die »Linie« noch vor dem Befehl zu erahnen ist ein großes Vergnügen verständiger Chefs. Das, was im Zentrum begonnen hat, wird zu gegebener Zeit bestimmt bis nach Tschukotka gelangen, bis an Indigirka und Jana, bis an die Kolyma. Doktor Miller war das alles klar. In der Siedlung Arkagala, wo Miller als Arzt arbeitete, war ein Ferkel in die Kloake gefallen. Das Ferkel war in der Jauche erstickt, aber wurde herausgezogen, und es kam zu einem der heftigsten Rechtsstreite; an der Beilegung der Angelegenheit wirkten sämtliche gesellschaftlichen Organisationen mit. Die Freiensiedlung, etwa hundert Chefs und Ingenieure mit Familien, verlangte, daß das Ferkel an die Freienkantine abgegeben würde: das wäre eine Rarität – Schweinekotelett, Hunderte Schweinekoteletts. Der Leitung lief das Wasser im Mund zusammen. Doch der Lagerchef Kutscherenko bestand darauf, daß das Ferkel ans Lager verkauft würde – und das gesamte Lager, die gesamte Zone erörterte über mehrere Tage das Schicksal des Ferkels. Alles Übrige war vergessen. In der Siedlung gab es Versammlungen – der Parteiorganisation, der Gewerkschaftsorganisation, der Soldaten des Wachtrupps.
Doktor Miller, ehemaliger Häftling, Chef der Sanitätsabteilung der Siedlung und des Lagers, sollte die heikle Frage entscheiden. Und Doktor Miller entschied – zugunsten des Lagers. Es wurde ein Protokoll aufgesetzt, in dem es hieß, das Ferkel sei in der Jauche ertrunken, könne aber für den Lagerkessel verwendet werden. Solche Protokolle gab es an der Kolyma viele. Kompott, das nach Petroleum stinkt. »Zum Verkauf im Laden der Freiensiedlung
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