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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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verwandelt – ein kleines Kabäuschen mit Schlafliege und Arzneischrank und einem Vorhang aus einer alten Decke. Die Decke schirmte die Schlafstelle ab, wo der Doktor wohnte.
    Vor der Sprechstunde mußte man auf der Straße Schlange stehen, im Frost.
    Ich hatte mich in die Hütte durchgedrängt. Die schwere Tür drückte mich ins Innere. Blaue Augen, eine hohe Stirn mit Geheimratsecken und ein Haarschnitt – der obligatorische Haarschnitt: die Haare sind Selbstbehauptung. Im Lager sind die Haare Ausweis deiner Position. Es werden ja alle kahlgeschoren. Und die nicht Kahlgeschorenen – werden von allen beneidet. Haare sind eine Art Protest gegen die Lagerordnung.
    »Aus Moskau?«, das fragte mich der Doktor.
    »Ja, aus Moskau.«
    »Machen wir uns bekannt.«
    Ich nannte meinen Namen und drückte die ausgestreckte Hand. Die Hand war kalt und ein wenig feucht.
    »Lunin.«
    »Ein berühmter Name«, sagte ich lächelnd.
    »Ein echter Urenkel. In unserem Geschlecht wird der älteste Sohn entweder Michail oder Sergej genannt. Abwechselnd. Jener, der puschkinsche, war Michail Sergejewitsch.«
    »Das ist bekannt.« Irgend etwas gar nicht Lagerhaftes war an diesem ersten Gespräch. Ich vergaß meine Bitte, konnte mich nicht entschließen, eine ungehörige Note in unsere Unterhaltung zu bringen. Aber – ich hungerte. Ich brauchte Brot und Wärme. Doch der Doktor hatte daran noch nicht gedacht.
    »Möchtest du rauchen?«
    Mit erfrorenen rosigen Fingern drehte ich mir eine Papirossa.
    »Nimm mehr, genier dich nicht. Zu Hause habe ich über meinen Urgroßvater eine ganze Bibliothek. Ich bin ja Student der Medizinischen Fakultät. Habe nicht abgeschlossen. Ich wurde verhaftet. In unserem Geschlecht sind alle Militärs, aber ich – bin Arzt. Und bedaure es nicht.«
    »Also weg mit Mars. Ein Freund des Äskulap, des Bacchus und der Venus.«
    »Mit Venus ist es hier schwach. Mit Äskulap dafür soviel du willst. Bloß habe ich kein Diplom. Hätte ich noch das Diplom, ich würde es ihnen zeigen.«
    »Und mit Bacchus?«
    »Alkohol ist da, du verstehst selbst. Aber ich trinke ein Gläschen – und gut. Ich werde schnell betrunken. Ich betreue ja auch die Freiensiedlung, also du verstehst selbst. Komm vorbei.«
    Ich drückte mich mit der Schulter durch die kaum geöffnete Tür und stolperte aus dem Ambulatorium.
    »Weißt du, die Moskauer, das ist so ein Volk, sie lieben es mehr als alle anderen – die Kiewer oder Leningrader –, von ihrer Stadt zu sprechen, den Straßen, Eisbahnen, Häusern, der Moskwa ...«
    »Ich bin kein geborener Moskauer.«
    »Und die reden noch mehr, erinnern sich noch besser an die Stadt.«
    Ich kam einige Abende gegen Ende der Sprechstunde vorbei – rauchte eine Machorka-Papirossa und hatte Angst, um Brot zu bitten.
    Sergej Michajlowitsch dachte, wie jeder, der es im Lager leicht hatte, weil er Glück hatte oder Arbeit, wenig an die anderen und verstand die Hungernden schlecht: sein Abschnitt, Arkagala, hungerte damals noch nicht. Die Nöte der Bergwerke hatten Arkagala verschont.
    »Wenn du willst, operiere ich dich, ich schneide dir die Zyste am Finger raus.«
    »Gut.«
    »Aber Vorsicht, von der Arbeit werde ich dich nicht freistellen. Das ist heikel, du verstehst.«
    »Und wie soll ich arbeiten mit operiertem Finger?«
    »Ach, irgendwie.«
    Ich war einverstanden, und Lunin schnitt mir die Zyste ziemlich kunstvoll »zur Erinnerung« heraus. Als ich nach vielen Jahren meine Frau wieder traf, suchte sie in der ersten Minute der Begegnung, meine Finger drückend, mit höchstem Erstaunen nach dieser »Luninschen« Zyste.
    Ich verstand, daß Sergej Michajlowitsch einfach sehr jung war, daß er einen vernünftigen Gesprächspartner brauchte, daß all seine Ansichten zum Lager und zum »Schicksal« sich nicht von den Ansichten jedes anderen »freien« Chefs unterschieden, daß er sogar geneigt war, sich für die Ganoven zu begeistern, daß das Wesen des Sturms des Jahres achtunddreißig an ihm vorübergegangen war.
    Und mir war jede Stunde der Erholung, jeder Tag der Erholung teuer – die Muskeln, nach dem Goldbergwerk müde fürs ganze Leben, schmerzten und baten um Ruhe. Mir war jedes Stück Brot teuer, jede Schüssel Suppe – der Magen verlangte Nahrung, und die Augen suchten, gegen meinen Willen, auf den Regalen nach Brot. Aber ich zwang mich, über Kitaj-Gorod und das Nikita-Tor zu sprechen, wo sich der Schriftsteller Andrej Sobol erschossen und wo Stern auf das Auto des deutschen Botschafters geschossen

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