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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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gekommen.«
    »Das ist noch gar nichts. Ich versichere dir, wenn du den Schurken triffst – du wirst mit ihm reden, als wäre nichts geschehen.«
    Und so kam es auch. In einem der »Trockenbäder« – so heißt im Butyrka-Gefängnis eine Durchsuchung – wurden ein paar Personen in die Zelle gestoßen, unter ihnen auch Kogans Bekannter, der falsche Zeuge. Kogan schlug ihn nicht, er sprach mit ihm. Nach dem »Trockenbad« hat mir Aron das alles erzählt.
    Aleksandr Georgijewitsch hielt keine Vorträge und beteiligte sich nicht an den Streitgesprächen, aber hörte diese Streitgespräche sehr aufmerksam an.
    Einmal, als ich meinen Beitrag geleistet hatte und mich auf die Pritsche legte – unsere Plätze waren nebeneinander –, setzte sich Andrejew zu mir.
    »Wahrscheinlich haben Sie recht – aber erlauben Sie, daß ich Ihnen eine alte Geschichte erzähle.
    Ich bin nicht das erste Mal verhaftet. 1921 wurde ich für drei Jahre nach Narym verbannt. Ich erzähle Ihnen eine gute Geschichte über die Verbannung in Narym.
    Für alle Verbannungsorte gelten dieselben Regeln, auf Befehl aus Moskau. Die Verbannten haben nicht das Recht, mit der Bevölkerung zu verkehren, die Verbannten sind gezwungen, im eigenen Saft zu schmoren.
    Das verdirbt die Schwachen, bei den Starken festigt es den Charakter, und manchmal begegnet man vollkommen ungewöhnlichen Dingen.
    Mir wurde ein sehr entlegener Wohnort vorgeschrieben, der entlegenste und abgelegenste. Auf der langen Schlittenfahrt komme ich zum Übernachten in ein Dörfchen, wo es eine ganze Kolonie von Verbannten gibt – sieben Personen. Es ließe sich leben. Aber ich bin ein zu großer Fisch, ich darf nicht – bis zu meinem Dorf sind es weitere zweihundert Werst. Der Winter geht dem Ende zu, ein Frühlingseinbruch, feuchtes Schneegestöber, kein Durchkommen, und zu meiner Freude und der meiner Begleitposten bleibe ich eine ganze Woche in der Kolonie. Sieben Verbannte sind dort. Zwei Komsomolzen und Anarchisten, Mann und Frau – Anhänger Pjotr Kropotkins; zwei Zionisten, Mann und Frau; zwei rechte Sozialrevolutionäre, Mann und Frau. Der siebte ist ein orthodoxer Theologe und Bischof, Professor an der Geistlichen Akademie, der irgendwann in Oxford Vorlesungen gehalten hat. Kurz, eine bunte Gesellschaft. Alle sind einander feind. Endlose Diskussionen, Cliquenwirtschaft der übelsten Sorte. Das Leben ist schrecklich. Kleine Zwists, die sich zu krankhaften Streitereien auswachsen, gegenseitige Mißgunst und Feindschaft, gegenseitige Erbitterung. Viel freie Zeit.
    Und alle sind sie – jeder auf seine Weise – denkende, lesende, ehrliche, gute Menschen.
    In dieser Woche dachte ich über jeden nach, versuchte jeden zu verstehen.
    Das Schneegestöber hatte sich schließlich gelegt. Ich fuhr für zwei ganze Jahre in die Abgelegenheit der Tajga. Nach zwei Jahren wurde mir erlaubt – vor der Zeit! – nach Moskau zurückzukehren. Und ich kehre auf demselben Weg zurück. Auf dem ganzen langen Weg habe ich nur an einem Ort Bekannte – dort, wo mich der Schneesturm aufgehalten hat.
    Ich übernachte im selben Dorf. Alle Verbannten sind hier – alle sieben, niemand wurde befreit. Doch ich sah dort etwas Größeres als die Befreiung.
    Es waren ja drei Ehepaare gewesen: die Zionisten, die Komsomolzen und die Sozialrevolutionäre. Und ein Professor der Theologie. Inzwischen – hatten alle sechs Personen den orthodoxen Glauben angenommen. Der Bischof hat sie alle agitiert, dieser gelehrte Professor. Heute beten sie gemeinsam zu Gott und leben als christliche Kommune.«
    »Wirklich, eine sonderbare Geschichte.«
    »Ich habe viel darüber nachgedacht. Ein aufschlußreicher Fall. All diese Leute – die Sozialrevolutionäre, die Zionisten und die Komsomolzen, alle sechs hatten einen gemeinsamen Zug. Sie teilten den grenzenlosen Glauben an die Kraft des Intellekts, an den Verstand, an den Logos.«
    »Der Mensch soll nach dem Gefühl entscheiden und dem Verstand nicht zu sehr glauben.«
    »Für Entscheidungen braucht man keine Logik. Die Logik ist die Rechtfertigung, die Ausgestaltung, die Erklärung ...«
    Der Abschied fiel uns schwer. Aleksandr Georgijewitsch wurde vor mir »mit Sachen« aufgerufen. Wir standen einen Moment an der offenen Zellentür, und ein Sonnenstrahl ließ uns beide blinzeln. Der Begleitposten, leise mit dem Schlüssel an die Kupferschnalle seines Gürtels klappernd, wartete. Wir umarmten uns.
    »Ich wünsche Ihnen«, sagte Aleksandr Georgijewitsch gedämpft und

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