Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
Erschießung ist. Die Freude war begründet – alles lag noch vor uns. Alle drängten in die Freiheit, an die »frische Luft«, zur Anrechnung der Arbeitstage.
»Und Sie?«
»Uns ehemalige politische
katorga
-Häftlinge schickt man nach Dudinka, in die Verbannung. Auf ewig. Ich bin ja schon alt.«
Übrigens war schon das »Durchstehen« gängig, wo man mehrere Tage am Schlafen gehindert wurde, und das »Fließband«, wo die Untersuchungsführer nach ihrer Schicht abgelöst wurden, und der Verhörte saß auf dem Stuhl, bis er das Bewußtsein verlor.
Aber » Methode Nr. 3 « lag noch vor uns.
Ich begriff, daß meine Betätigung im Gefängnis dem alten
katorga
-Häftling gefiel. Ich war kein Neuling, wußte, wie und womit man Verzagte trösten mußte ... Ich war der gewählte Zellenälteste. Andrejew sah in mir sich selbst in seinen jungen Jahren. Und mein anhaltendes Interesse und meine Achtung für seine Vergangenheit, mein Verständnis für sein Schicksal waren ihm angenehm.
Der Gefängnistag ging keinesfalls unnütz vorüber. Die innere Selbstverwaltung des Butyrka-Untersuchungsgefängnisses hatte ihre eigenen Gesetze, und das Einhalten dieser Gesetze bildete den Charakter, beruhigte die Neulinge und brachte Nutzen.
Täglich wurden Vorträge gehalten. Jeder, der ins Gefängnis kam, konnte etwas Interessantes von seiner Arbeit und seinem Leben erzählen. Die lebendige Erzählung eines einfachen Montageschlossers über den Dneprostroj ist mir noch heute in Erinnerung.
Der Dozent der Akademie der Luftstreitkräfte Kogan hielt mehrere Vorträge – »Wie die Menschen die Erde vermessen haben«, »Die Welt der Sterne«.
Shorshik Kosparow, der Sohn von Stalins erster Sekretärin, die der »Chef-Pilot« in Verbannungen und Lagern zu Tode brachte, erzählte die Geschichte Napoleons.
Ein Museumsführer aus der Tretjakow-Galerie sprach über die Barbizon-Schule der Malerei.
Die Liste der Vorträge nahm kein Ende. Geführt wurde sie im Kopf – vom Ältesten, dem »Kultorg« der Zelle ...
Jeden Ankömmling, jeden Neuling konnte man gewöhnlich dazu bewegen, am selben Abend die Moskauer Zeitungsnachrichten, Gerüchte und Gespräche wiederzugeben. Wenn der Häftling sich eingewöhnt hatte, fand er auch die Kraft für einen Vortrag.
Außerdem gab es in der Zelle immer viele Bücher – aus der berühmten Bibliothek des Butyrka-Gefängnisses, die keine Konfiszierungen kannte. Hier gab es viele Bücher, die man in freien Bibliotheken nicht fand. Die »Geschichte der Internationale« von Illés, Massons »Aufzeichnungen«, die Bücher von Kropotkin . Der Buchbestand setzte sich aus Spenden der Häftlinge zusammen. Das war eine uralte Tradition. Erst nach meiner Zeit, Ende der dreißiger Jahre, wurde auch in dieser Bibliothek eine Säuberung durchgeführt.
Die Untersuchungshäftlinge lernten Fremdsprachen und lasen vor – O’Henry, Jack London –, eine Einführung in das Schaffen und das Leben dieser Schriftsteller gaben die Dozenten.
Von Zeit zu Zeit – einmal pro Woche – wurden Vorstellungen veranstaltet, wo Schneider, der Kapitän auf großer Fahrt, Kunststücke zeigte und German Chochlow, Literaturkritiker der »Iswestija«, Gedichte von Zwetajewa und Chodassewitsch vortrug.
Chochlow war ein Emigrant, der nach dem Abschluß der russischen Universität in Prag um Rückkehr in die Heimat angesucht hatte. Die Heimat empfing ihn mit der Verhaftung, Untersuchung und Verurteilung zu Lagerhaft. Ich habe niemals mehr von Chochlow gehört. Hornbrille, kurzsichtige blaue Augen, hellblonde schmutzige Haare ...
Außer den allgemeinbildenden Veranstaltungen entsponnen sich in der Zelle, und zwar häufig, Streitgespräche und Diskussionen über sehr wichtige Themen.
Ich erinnere mich, Aron Kogan, jung und impulsiv, beteuerte, die Intelligenz biete Vorbilder an revolutionärem Verhalten und revolutionärem Heldenmut und sei zu größtem Heroismus fähig – mehr als die Arbeiter und mehr als die Kapitalisten, obwohl die Intelligenz eine »schwankende« Schicht zwischen den Klassen sei.
Ich mit meiner damals geringen Lagererfahrung hatte eine andere Vorstellung vom Verhalten eines Vertreters der Intelligenz in schwerer Zeit. Die Religiösen, die Sektenmitglieder – sie waren es nach meiner Beobachtung, die das Feuer seelischer Standhaftigkeit besaßen.
Das Jahr achtunddreißig bestätigte mich vollkommen – aber Aron Kogan war schon nicht mehr am Leben.
»Ein falscher Zeuge! Mein Kamerad! Wohin sind wir
Weitere Kostenlose Bücher