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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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das Visum.«
    Er kam verdrossen zurück.
    »Er läßt dich nicht gehen, verstehst du. Er sagt, du hast versprochen, ihn in die Fresse zu hauen. Auf keinen Fall stimmt er zu.«
    Ich erzählte die ganze Geschichte.
    Lunin zerriß die »Überweisung«.
    »Selbst schuld«, sagte er mir. »Was geht dich Selfugarow an, und all diese ... Sie haben ja nicht dich geschlagen.«
    »Mich hat man früher geschlagen.«
    »Gut, auf Wiedersehen. Das Auto wartet. Wir denken uns irgendwas aus.« Und Lunin stieg ins Führerhaus des Lkw.
    Ein paar Tage vergingen, und Lunin war wieder da.
    »Jetzt gehe ich zu Kisseljow. Wegen dir.«
    Nach einer halben Stunde kam er zurück.
    »Alles in Ordnung. Er stimmt zu.«
    »Und wie?«
    »Ich habe ein Mittel, die Herzen der Widerspenstigen zu zähmen.«
    Und Sergej Michajlowitsch schilderte das Gespräch mit Kisseljow:
    »Was führt Sie her, Sergej Michajlowitsch? Setzen Sie sich. Möchten Sie rauchen?«
    »Nein nein, keine Zeit. Ich habe Ihnen hier, Pawel Iwanowitsch, die Protokolle über Schläge mitgebracht, die Operativgruppe hat sie mir zur Unterschrift geschickt. Ehe ich sie unterschreibe, wollte ich Sie fragen, ob das alles wahr ist?«
    »Nein, Sergej Michajlowitsch. Meine Feinde sind bereit ...«
    »Das habe ich auch gedacht. Ich unterschreibe diese Protokolle nicht. Man kann, Pawel Iwanowitsch, sowieso nichts wiedergutmachen, ausgeschlagene Zähne nicht mehr einsetzen.«
    »Ja, Sergej Michajlowitsch. Darf ich Sie zu mir nach Hause bitten, meine Frau hat ein Fruchtlikörchen angesetzt. Ich habe es für Neujahr aufgehoben, aber aus solchem Anlaß ...«
    »Nein, nein, Pawel Iwanowitsch. Nur Gefälligkeit gegen Gefälligkeit. Lassen Sie Andrejew nach Arkagala fahren.«
    »Aber das kann ich wirklich nicht. Andrejew, er ist ...«
    »Ihr persönlicher Feind?«
    »Ja-ja.«
    »Nun, aber er ist mein persönlicher Freund. Ich hätte gedacht, Sie wären achtsamer gegenüber meiner Bitte. Hier, sehen Sie sich die Protokolle über die Schläge an.«
    Kisseljow schwieg.
    »Soll er fahren.«
    »Schreiben Sie die Bescheinigung.«
    »Soll er selbst kommen.«
    Ich trat über die Schwelle des Kontors. Kisseljow schaute zu Boden.
    »Sie fahren nach Arkagala. Hier ist die Bescheinigung.«
    Ich schwieg. Der Kontorist schrieb die Bescheinigung, und ich ging zurück ins Ambulatorium.
    Lunin war schon gefahren, aber Kolesnikow erwartete mich.
    »Du fährst am Abend, gegen neun. Akute Blinddarmentzündung«, und er hielt mir den Zettel hin.
    Weder Kisseljow noch Kolesnikow habe ich jemals wiedergesehen. Kisseljow wurde bald an einen anderen Ort versetzt, nach »Eigen«, und dort kam er nach ein paar Monaten zu Tode, durch einen Zufall. In die Wohnung, das Häuschen, wo er lebte, war nachts ein Dieb eingestiegen. Kisseljow, der Schritte hörte, nahm eine geladene Doppelflinte von der Wand, spannte den Hahn und stieg dem Dieb nach. Der Dieb stürmte zum Fenster, Kisseljow schlug ihm mit dem Kolben in den Rücken und schoß sich die Ladung beider Läufe in den eigenen Bauch.
    Alle Häftlinge in den Kohlerevieren der Kolyma freuten sich über diesen Tod. Die Zeitung mit der Anzeige von Kisseljows Beerdigung ging von Hand zu Hand. Im Schacht wurde der zerknitterte Zeitungsfetzen mit der Grubenlampe am Akkumulator beleuchtet. Man las, freute sich und schrie »hurra!« Kisseljow ist tot! Es gibt doch einen Gott!
    Vor diesem Kisseljow hatte Sergej Michajlowitsch mich tatsächlich bewahrt.
    Das Lager Arkagala versorgte das Bergwerk. Auf hundert Arbeiter unter Tage, hundert Bergleute – kamen tausend in der Versorgung.
    Der Hunger rückte an Arkagala heran. Und natürlich kam er zuerst in die Baracken von Artikel achtundfünfzig.
    Sergej Michajlowitsch war verärgert.
    »Ich bin nicht die Sonne, ich kann nicht alle wärmen. Du bist als Gehilfe im Chemielabor eingestellt, du hättest leben müssen, fähig sein zu leben. Wie im Lager, verstehst du?« Sergej Michajlowitsch klopfte mir auf die Schulter. »Vor dir hat Dimka hier gearbeitet. Der hat das ganze Glyzerin verkauft, zwei Fässer haben hier gestanden, für zwanzig Rubel das Halbliterglas – Honig, hat er gesagt, ha-ha-ha! Für einen Gefangenen ist alles gut.«
    »Für mich taugt das nicht.«
    »Und was taugt dann für dich?«
    Der Dienst als Gehilfe war unsicher. Ich wurde bald – in dieser Hinsicht gab es strenge Anweisungen – in den Schacht versetzt. Mein Hunger wurde immer größer.
    Sergej Michajlowitsch rannte durchs Lager. Er hatte eine Leidenschaft: jede Art

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