Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
von Chefposten bezauberte unseren Doktor. Lunin war unwahrscheinlich stolz auf seine Freundschaft oder zumindest den Hauch einer Freundschaft zu einem beliebigen Vertreter der Lagerleitung, er war bemüht, seine Nähe zur Leitung zu zeigen, rühmte sich ihrer und konnte über diese trügerische Nähe stundenlang reden.
Ich saß hungrig in der Sprechstunde, hatte Angst, um ein Stück Brot zu bitten, und hörte die unendliche Prahlerei an.
»Was ist ein Chef? Ein Chef, mein Freund, das ist Macht. Es ist keine Macht außer von Gott , ha-ha-ha! Ihm muß man gefällig sein – und alles wird gut.«
»Mir würde es gefallen, ihm die Fresse zu polieren.«
»Na siehst du. Komm, wir machen etwas aus: Du kannst zu mir kommen – es ist doch wahrscheinlich langweilig in der allgemeinen Baracke?«
»Langweilig?!«
»Nun ja. Komm zu mir. Zusammensitzen, rauchen. In der Baracke geben sie euch keinen Tabak. Ich weiß ja – aus hundert Augen schauen sie auf die Papirossa. Nur bitte mich nicht um Befreiung von der Arbeit. Das kann ich nicht, das heißt ich kann, aber es ist heikel. Das ist deine Sache. Und zu futtern, du verstehst selbst, woher soll ich es nehmen – das ist Sache meines Sanitäters. Ich selbst hole kein Brot. Wenn du also mal Brot brauchst, sag es dem Sanitäter Nikolaj. Kannst denn du, als Lagerveteran, kein Brot organisieren? Hör zu, was die Frau des Chefs, Olga Petrowna, heute gesagt hat. Sie laden mich ja auch zum Trinken ein.«
»Ich gehe, Sergej Michajlowitsch.«
Es kamen hungrige und schreckliche Tage. Und irgendwann, als ich den Hunger nicht ertragen konnte, ging ich ins Ambulatorium.
Sergej Michajlowitsch saß auf einem Schemel und riß mit einer Listonschen Zange die abgestorbenen Nägel an den erfrorenen Fingern eines zusammengekauerten schmutzigen Menschen ab. Die Nägel fielen einer nach dem anderen klappernd in eine leere Schüssel. Sergej Michajlowitsch bemerkte mich.
»Gestern habe ich eine halbe Schüssel Nägel vollgemacht.«
Hinter dem Vorhang schaute ein weibliches Gesicht hervor. Wir sahen selten Frauen, noch dazu aus der Nähe, noch dazu im Zimmer, von Angesicht zu Angesicht. Sie erschien mir wunderschön. Ich verbeugte mich und grüßte sie.
»Guten Tag«, sagte sie mit tiefer wunderbarer Stimme. »Serjosha, ist das dein Kamerad? Von dem du erzählt hast?«
»Nein«, sagte Sergej Michajlowitsch, warf die Listonsche Zange in die Schüssel und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen.
»Nikolaj«, sagte er dem eintretenden Sanitäter, »nimm die Schüssel weg und bring ihm«, er zeigte mit dem Kopf auf mich, »Brot.«
Nachdem ich das Brot bekommen hatte, ging ich in die Baracke. Das Lager ist das Lager. Und jene Frau, an deren zartes und reizendes Gesicht ich mich noch heute erinnere, obwohl ich sie niemals mehr gesehen habe, war Edit Abramowna, eine Freie, Parteimitglied, Vertragsarbeiterin, Krankenschwester aus dem Bergwerk »Oltschan«. Sie hatte sich in Sergej Michajlowitsch verliebt, lebte mit ihm, erreichte seine Versetzung nach »Oltschan«, erreichte seine vorfristige Entlassung noch während des Kriegs. Sie fuhr nach Magadan zu Nikischow, dem Dalstroj-Chef, und setzte sich für Sergej Michajlowitsch ein, und als man sie aus der Partei ausschloß wegen ihrer Verbindung mit einem Häftling – die übliche »Unterbindungsmaßnahme« in solchen Fällen –, gab sie die Sache nach Moskau weiter und erreichte die Aufhebung von Lunins Vorstrafe, erreichte, daß er an der Moskauer Universität das Examen ablegen durfte, das Arztdiplom erhielt und in alle Rechte wiedereingesetzt wurde, und heiratete ihn in aller Form.
Als aber der Nachkomme des Dekabristen sein Diplom erhalten hatte, verließ er Edit Abramowna und forderte die Scheidung.
»Sie hat zuviel Familie, wie alle Jidden. Das ist nichts für mich.«
Edit Abramowna hatte er verlassen, doch den Dalstroj zu verlassen gelang ihm nicht. Er mußte zurück in den Hohen Norden – wenn auch nur für drei Jahre. Die Fähigkeit, sich mit der Leitung gutzustellen, brachte Lunin, dem diplomierten Arzt, eine Berufung von überraschendem Gewicht – zum Leiter der chirurgischen Abteilung des Zentralen Häftlingskrankenhauses am linken Ufer in der Siedlung Debin. Ich war zu dieser Zeit, 1948, Oberfeldscher in dieser Abteilung.
Die Berufung Lunins wirkte wie ein Donnerschlag.
Es war so, daß der Abteilungsleiter, der Chirurg Rubanzew, Frontchirurg gewesen war – Major des medizinischen Dienstes –, ein tüchtiger,
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