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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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hat –, über die Geschichte der Straßen Moskaus, die niemals geschrieben werden wird.
    »Ja, Moskau, Moskau. Aber sag – wie viele Frauen hattest du?«
    Für einen Halbverhungerten war es unmöglich, ein solches Gespräch führen, aber der junge Chirurg hörte nur sich selbst und nahm mein Schweigen nicht übel.
    »Hör zu, Sergej Michajlowitsch –, unsere Schicksale, das ist ja ein Verbrechen, das größte Verbrechen des Jahrhunderts.«
    »Ach, das weiß ich nicht«, sagte Sergej Michajlowitsch unwillig. »Da hetzen die Jidden immer.«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    Bald erreichte Sergej Michajlowitsch seine Versetzung in den Abschnitt, nach Arkagala, und ich dachte ohne Wehmut und Kränkung, daß wieder ein Mensch für immer aus meinem Leben geht und was für eine leichte Sache das im Grunde ist – die Trennung, das Scheiden. Aber alles kam anders.
    Chef des Abschnitts Kadyktschan, wo ich an der ägyptischen Kreiswinde arbeitete wie ein Sklave, war Pawel Iwanowitsch Kisseljow Ein älterer parteiloser Ingenieur. Kisseljow prügelte die Häftlinge jeden Tag. Wenn der Chef in den Abschnitt kam, gab es Prügel, Schläge, Geschrei.
    Die Straflosigkeit? Eine irgendwo auf dem Grund der Seele schlummernde Blutgier? Der Wunsch, sich in den Augen der obersten Leitung auszuzeichnen? Die Macht ist eine schreckliche Sache.
    Selfugarow, ein jugendlicher Falschmünzer aus meiner Brigade, lag im Schnee und spuckte die eingeschlagenen Zähne aus.
    »All meine Verwandten, hörst du, wurden erschossen wegen Falschmünzerei, aber ich war minderjährig – ich kam für fünfzehn Jahre ins Lager. Mein Vater hat dem Untersuchungsführer gesagt, ›ich gebe dir fünfhunderttausend in bar, echte, stell das Verfahren ein ...‹ Der Untersuchungsführer war nicht bereit.«
    Wir, vier Schichtarbeiter an der Kreiswinde, standen um Selfugarow herum. Kornejew, ein sibirischer Bauer, der Ganove Ljonja Semjonow, der Ingenieur Wronskij und ich. Der Ganove Ljonja Semjonow sagte:
    »Nur im Lager lernt man an Mechanismen zu arbeiten – übernimm jede Arbeit, du mußt nicht dafür aufkommen, wenn du eine Winde oder einen Hebekran kaputtmachst. Mit der Zeit lernst du es.« Ein Gedanke, wie er unter jungen Kolyma-Chirurgen gängig ist.
    Wronskij und Kornejew waren Bekannte, keine Freunde, sondern einfach Bekannte, noch vom Schwarzen See, jener Lageraußenstelle, an der ich ins Leben zurückkehrte.
    Selfugarow wandte uns, ohne aufzustehen, das blutige Gesicht mit den geschwollenen schmutzigen Lippen zu.
    »Ich kann nicht aufstehen, Leute. Er hat mich unter die Rippe geschlagen. Ach, der Natschalnik, der Natschalnik.«
    »Geh zum Feldscher.«
    »Dann wird es noch schlimmer. Er sagt es dem Natschalnik.«
    »Hör zu«, sagte ich, »das endet nie. Es gibt einen Ausweg. Wenn der Chef von Dalstroj-Kohle kommt oder ein anderer hoher Chef, vortreten und Kisseljow im Beisein der Chefs in die Fresse hauen. Die ganze Kolyma wird davon sprechen, und Kisseljow wird abgesetzt, er wird mit Sicherheit versetzt. Und der geschlagen hat, bekommt eine Haftstrafe. Wieviel Jahre geben sie für Kisseljow?«
    Wir gingen an die Arbeit, drehten die Winde, gingen in die Baracke, aßen zu Abend, wollten uns schlafen legen. Man rief mich ins Kontor.
    Im Kontor saß Kisseljow, er sah auf die Erde. Er war kein Feigling und mochte keine Drohungen.
    »Na, was«, sagte er fröhlich. »Die ganze Kolyma wird davon sprechen, was? Ich stelle dich vor Gericht, für einen Anschlag. Verschwinde, du Aas!..«
    Nur Wronskij hatte mich denunzieren können, aber wie? Wir waren die ganze Zeit zusammen gewesen.
    Seit jener Zeit wurde mir das Leben im Abschnitt leichter. Kisseljow kam nicht einmal in die Nähe der Winde und lief bei der Arbeit mit einem Kleinkalibergewehr herum – in den Stollenschacht, den bereits gebohrten, stieg er überhaupt nicht hinunter.
    Jemand betrat die Baracke.
    »Du sollst zum Doktor kommen.«
    Der »Doktor«, der Lunin abgelöst hatte, war ein gewisser Kolesnikow – auch er ein abgebrochener Student der Medizin, ein junger hochgewachsener Kerl, selbst Häftling.
    Am Tisch im Ambulatorium saß Lunin, im Halbpelz.
    »Pack deine Sachen, wir fahren jetzt nach Arkagala. Kolesnikow, schreib eine Überweisung.«
    Kolesnikow faltete ein Blatt Papier mehrmals, riß ein winziges Stückchen, kaum größer als eine Briefmarke, ab und schrieb mit feinster Schrift: »In die Sanitätsabteilung des Lagers Arkagala.«
    Lunin nahm den Zettel und lief los:
    »Ich hole bei Kisseljow

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