Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
Vom Netzwerk:
anderes Verhältnis zu den Häftlingen als sein hoher Chef und stellt sich innerlich manchmal gegen den Chef und auf die Seite der Häftlinge. Nicht, daß er dem Häftling helfen würde. Nein, er drückt einfach bei Übertretungen ein Auge zu, wenn er ein Auge zudrücken kann, er sieht nicht, wenn es möglich ist, nicht zu sehen, er ist einfach weniger streitsüchtig. Besonders wenn der Aufseher älter ist. Für den Häftling ist der beste Chef schon älter und von niedrigem Rang. Die Verbindung dieser beiden Bedingungen garantiert beinahe einen relativ anständigen Menschen. Wenn er noch dazu auch trinkt – um so besser. Auf Karriere ist ein solcher Mensch nicht aus, und seine Karriere macht ein Gefängnis- und besonders Lageraufseher – mit dem Blut der Gefangenen.
    Doch die Institution forderte die Auflösung der »Armenkomitees«, und die Gefängnisleitung versuchte diese erfolglos zu erreichen.
    Sie machte einen Versuch, die »Armenkomitees« von innen zu sprengen – das war natürlich die raffinierteste Lösung. Die »Armenkomitees« waren eine illegale Organisation, jeder Häftling konnte sich den erzwungenen Abführungen verweigern. Wer solche »Steuern« nicht zu zahlen wünschte, die »Armenkomitees« nicht unterstützen wollte, konnte protestieren und hätte im Falle seiner Weigerung, seines Protests, sofort die volle Unterstützung der Gefängnisverwaltung bekommen. Selbstverständlich – ein Gefängniskollektiv ist ja nicht der Staat, daß es Steuern erheben dürfte, und also sind die »Armenkomitees« Erpressung, »Nötigung«, Raub.
    Zweifellos konnte sich jeder Häftling den Abgaben verweigern. »Ich will nicht – und basta! Das Geld gehört mir, und niemand hat das Recht, sich daran zu vergreifen« etc. Bei einer solchen Erklärung wurden keinerlei Abzüge gemacht, und alles Bestellte wurde vollständig zugestellt.
    Wer allerdings wird eine solche Erklärung riskieren? Wer wird riskieren, sich gegen das Gefängniskollektiv zu stellen – die Leute, mit denen du vierundzwanzig Stunden am Tag verbringst, und nur der Schlaf rettet dich vor den unfreundlichen, feindlichen Blicken der Kameraden? Im Gefängnis sucht jeder gezwungenermaßen beim Nachbarn seelische Unterstützung, und sich einem Boykott auszusetzen ist zu schrecklich. Das ist schrecklicher als die Drohungen des Untersuchungsführers, obwohl hier keinerlei physische Einwirkungsmaßnahmen angewandt werden.
    Der Gefängnisboykott ist eine Waffe im Nervenkrieg. Und Gott bewahre jeden davor, die betonte Verachtung der Kameraden an sich selbst zu erleben.
    Wenn aber der antigesellschaftliche Bürger allzu dickfellig und störrisch ist – hat der Älteste eine noch verletzendere, noch wirksamere Waffe.
    Die Brotration darf dem Häftling im Gefängnis niemand entziehen (ausgenommen der Untersuchungsführer, der das zur »Durchführung des Verfahrens« manchmal braucht), auch der Störrische erhält seine Schüssel Suppe, seine Portion Grütze, sein Brot.
    Das Essen verteilt der Austeiler auf Weisung des Ältesten (dies ist eine der Funktionen des Zellenältesten). Zwischen den Pritschen, die entlang der Zellenwände aufgestellt sind, verläuft ein Durchgang von der Tür bis zum Fenster.
    Die Zelle hat vier Ecken, und das Essen wird der Reihe nach von jeder her verteilt, den einen Tag von der einen, den anderen Tag von der anderen. Dieser Wechsel ist nötig, damit die erhöhte nervliche Erregbarkeit der Häftlinge nicht durch irgendeine Lappalie wie »das Dünne« und »das Dicke« der wässrigen Butyrka-Brühe in Alarm versetzt würde, um die Chancen aller auf Sämigkeit und Temperatur der Suppe auszugleichen ... im Gefängnis ist nichts belanglos.
    Der Älteste gibt mit einem Kommando die Ausgabe frei und fügt hinzu: und als letztem geben Sie ihm (Soundso) – dem, der den »Armenkomitees« aus dem Weg gehen will.
    Diese erniedrigende, unerträgliche Kränkung kann an einem Butyrka-Tag viermal beigebracht werden – dort wird morgens und abends Tee ausgegeben, zum Mittag Suppe und am Abend Grütze.
    Während der Brotausgabe kann die »Einwirkung« ein fünftes Mal ausgeübt werden.
    Zur Klärung solcher Dinge den Kommandanten des Gebäudeblocks anzurufen ist riskant, denn die ganze Zelle wird gegen unseren Starrkopf aussagen. In solchen Fällen gehört es sich, kollektiv zu lügen, der Kommandant wird die Wahrheit nicht herausfinden.
    Doch der Egoist, der Geizkragen ist ein Mensch mit starkem Charakter. Außerdem hält er nur sich für

Weitere Kostenlose Bücher