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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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darüber?«
    »Ich denke gar nichts. Befehl ist Befehl.«
    »Und hast du verstanden, wie ich die Zimmerleute ausgesucht habe?«
    »Wahrscheinlich ...«
    »Ich suche einfach die Bauern aus, die Bauern. Jeder Bauer ist ein Zimmermann. Und gewissenhafte Arbeiter wähle ich auch unter den Bauern. Und irre mich nicht. Aber wie ich Mitarbeiter der Organe an den Augen erkennen soll – weiß ich nicht. Haben sie einen unsteten Blick? Sag.«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ich weiß auch nicht. Na, vielleicht lerne ich es noch auf meine alten Tage. Vor der Rente.«
    Die Etappe hatte sich, wie immer, entlang der Waggons aufgestellt. Stukow hielt seine übliche Rede über die Arbeit, die Anrechnungen, streckte den Arm aus und ging ein, zwei Mal an den Waggons entlang.
    »Ich brauche Zimmerleute. Zwanzig Mann. Aber aussuchen werde ich selbst, stillstehen!«
    »Tritt du vor ... Du ... Du. Das sind alle. Suchen Sie die Akten heraus.«
    Die Finger des Chefs befühlten einen Zettel in der Tasche der Uniformjacke.
    »Nicht abtreten. Ich habe noch etwas.«
    Stukow hob die Hand mit dem Zettel.
    »Gibt es unter euch Mitarbeiter der Organe?«
    Zweitausend Häftlinge schwiegen.
    »Gibt es, frage ich, unter euch jemand, der früher in den Organen gearbeitet hat? In den Organen!«
    Aus den hinteren Reihen, die Nachbarn mit den Fingern beiseite drängend, bahnte sich ein hagerer Mann den Weg, tatsächlich mit unstetem Blick.
    »Ich habe als Informant gearbeitet, Bürger Natschalnik.«
    »Verschwinde«, sagte Stukow voll Verachtung und Vergnügen.
    1964

Lida
    Krists Lagerzeit, seine letzte Haftzeit im Lager schmolz dahin. Das tote Wintereis wurde unterhöhlt von den Frühlingsbächen der Zeit. Krist hatte gelernt, nicht auf die Anrechnung der Arbeitstage zu achten – ein Mittel, das die Freiheit des Menschen zerstört, ein tückisches Gespenst der Hoffnung, das Verderben in die Seelen der Häftlinge trägt. Doch die Zeit lief schneller und schneller – gegen Ende der Haft ist das immer so –, selig sind die unerwartet, die vorfristig Entlassenen!
    Krist vertrieb die Gedanken an eine mögliche Freiheit, daran, was in Krists Welt Freiheit heißt.
    Das ist sehr schwer – sich zu befreien. Krist wußte das aus eigener Erfahrung. Er wußte, wie man das Leben neu lernen muß, wie schwer es ist, in eine Welt der anderen Maßstäbe, anderer moralischer Normen einzutreten, wie schwer es ist, jene Vorstellungen wiederzubeleben, die bis zur Verhaftung in der Seele lebten. Sie waren keine Illusionen, diese Vorstellungen waren Gesetze einer anderen, frühen Welt.
    Sich zu befreien war schwer – und eine Freude, denn immer fanden sich, erstanden vom Grund der Seele Kräfte, die Krist Sicherheit im Verhalten, Mut in seinen Handlungen und einen festen Blick in seinen heraufdämmernden morgigen Tag gaben.
    Krist fürchtete sich nicht vor dem Leben, doch er wußte, daß damit nicht zu scherzen, daß das Leben eine ernste Sache ist.
    Krist wußte auch etwas anderes: daß er, wenn er in die Freiheit ging, für immer »gezeichnet«, für immer »gebrandmarkt« sein würde – für immer Jagdobjekt für jene Hetzhunde, die die Herren des Lebens jederzeit von der Leine lassen konnten.
    Aber Krist fürchtete sich nicht vor den Verfolgern. Er hatte noch viele Kräfte, seelische sogar mehr als früher, physische – weniger.
    Die Hetzjagd des Jahres siebenunddreißig hatte Krist ins Gefängnis gebracht, für eine neue, längere Haftzeit, und als auch diese Haftzeit abgebüßt war, bekam er eine weitere – noch längere. Doch bis zur Erschießung fehlten noch einige Stufen, einige Stufen auf dieser schrecklichen, beweglichen lebendigen Leiter, die den Menschen mit dem Staat verband.
    Sich zu befreien war gefährlich. Auf jeden Häftling, dessen Haftzeit endete, begann im letzten Jahr eine regelrechte Jagd – wohl in einem Befehl aus Moskau angeordnet und ausgearbeitet, denn »es fällt kein Haar« und so weiter. Eine Jagd in Form von Provokationen, Denunziationen, Verhören. Die Klänge des schrecklichen Lager-Jazzorchesters, des Oktetts – »sieben blasen, einer pfeift« – klangen immer lauter, immer vernehmlicher in den Ohren des vor seiner Befreiung Stehenden. Der Ton wurde immer unheilkündender, und kaum einer schaffte es, wohlbehalten – und zufällig! – durch diese Reuse, diese »Schlinge«, dieses Schleppnetz, diese Falle durchzurutschen und hinauszuschwimmen ins offene Meer, wo der Freigekommene keine Orientierungspunkte, keine sicheren Wege, keine

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