Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
und als Schädling vor Gericht gestellt, nach Punkt sieben, Artikel achtundfünfzig. Ljonka hatte die Tschechowsche Erzählung nie gehört, und er versuchte wie der klassische Tschechowsche Held, dem Untersuchungsführer zu »beweisen«, daß er nicht zwei benachbarte Schraubenmuttern losschraubt, daß er »Bescheid weiß« ...
Auf die Aussagen des Jungen aus Tuma stützte der Untersuchungsführer irgendwelche ungewöhnlichen »Konzeptionen« – deren unschuldigste Ljonka mit Erschießung drohte. Doch Ljonka mit irgend jemandem zu »verbinden« gelang der Untersuchung nicht, und so saß Ljonka das zweite Jahr im Gefängnis und wartete, daß die Untersuchung diese »Verbindungen« findet.
Wer auf seinem Gefängnis-Konto kein Geld hatte, mußte sich von der staatlichen Verpflegung ohne jede Ergänzung ernähren. Die Gefängnisverpflegung ist eine langweilige Sache. Selbst eine kleine Abwechslung im Essen verschönert das Häftlingsleben, macht es irgendwie fröhlicher.
Wahrscheinlich ist die Gefängnisverpflegung (anders als die im Lager) in ihren Kalorien, den Eiweißen, Fetten und Kohlenhydraten aus irgendwelchen theoretischen Berechnungen und Erfahrungsnormen hergeleitet. Diese Berechnungen stützen sich wahrscheinlich auf irgendwelche »wissenschaftlichen« Arbeiten – mit Abhandlungen dieser Art beschäftigen sich die Gelehrten gern. Ebenso wahrscheinlich ist, daß im Moskauer Untersuchungsgefängnis die Kontrolle der Essenszubereitung und des »Ankommens« der Kalorien beim lebendigen Verbraucher ein hinlängliches Niveau erreicht. Und wahrscheinlich ist im Butyrka-Gefängnis die Probe keineswegs eine höhnische Formalität wie im Lager. Irgendein alter Gefängnisarzt, der im Protokoll nach dem Platz sucht, wo er seine die Essensausgabe bestätigende Unterschrift hinsetzen soll, wird den Koch vielleicht bitten, ihm mehr Linsen aufzutun, das kalorienreichste Essen. Der Arzt wird scherzen, daß die Klagen der Häftlinge über das Essen müßig seien – selbst er, der Doktor, habe mit Vergnügen ein Schüsselchen – übrigens gibt man den Ärzten die Proben in Tellern – der heutigen Linsen gegessen.
Über das Essen im Butyrka-Gefängnis wurde niemals geklagt. Nicht, weil dieses Essen gut war. Dem Untersuchungshäftling ist letztendlich nicht nach Essen. Und selbst das unbeliebteste Häftlingsessen, gekochte Bohnen, die man hier erstaunlich schlecht schmeckend zubereitete, die Bohnen, die den harschen Beinamen »Essen und Runterschlucken« erhielten – selbst die Bohnen riefen keine Klagen hervor.
Wurst, Butter, Zucker, Käse und frische Brötchen aus dem Laden waren Leckereien. Jedem war es natürlich angenehm, sie zum Tee zu essen, nicht zum staatlichen abgekochten Wasser mit »Himbeer«geschmack, sondern echtem Tee, im Becher aufgebrüht aus der riesigen eimergroßen Teekanne aus rotem Kupfer, der Teekanne aus der Zarenzeit, der Teekanne, aus der vielleicht die Mitglieder des »Volkswillens« getrunken hatten.
Natürlich war das »Lädchen« ein freudiges Ereignis im Leben der Zelle. Der Entzug des »Lädchens« war eine harte Strafe, die immer zu Streit und Zwist führte, solche Dinge nehmen die Häftlinge sehr schwer. Ein zufälliger Lärm, den der Korridordienst hört, ein Streit mit dem diensthabenden Kommandanten – all das wurde als Dreistigkeit gewertet; die Strafe dafür war der Entzug des nächsten »Lädchens«.
Die Träume von achtzig Menschen, die auf zwanzig Plätzen untergebracht waren, zerstoben. Das war eine schwere Strafe.
Den Untersuchungshäftlingen, die kein Geld hatten, hätte der Entzug des »Lädchens« gleichgültig sein sollen. Doch so war es nicht.
Die Lebensmittel sind da, das abendliche Teetrinken beginnt. Jeder hat gekauft, was er wollte. Die Leute aber, die kein Geld haben, fühlen sich überflüssig auf diesem allgemeinen Fest. Nur sie teilen nicht die gehobene Stimmung, die am Tag des »Lädchens« eintritt.
Natürlich bieten ihnen alle etwas an. Aber man kann einen Becher Tee trinken mit fremdem Zucker und fremdem Weißbrot, eine fremde Papirossa rauchen – eine, eine zweite – all das ist keineswegs wie »zu Hause«, als hätte man all das für das eigene Geld gekauft. Der Mittellose ist so rücksichtsvoll, daß er Angst hat, ein Stück zuviel zu essen.
Das erfinderische kollektive Gefängnishirn hat einen Ausweg gefunden, der die heikle Lage der mittellosen Kameraden beseitigt, ihr Ehrgefühl schont und jedem Mittellosen das beinahe offizielle Recht gibt, das
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