Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)
unschuldig verhaftet und alle seine Gefängnisgenossen für Verbrecher. Er ist dickfellig genug, starrköpfig genug. Den Boykott durch die Kameraden hält er leicht aus – diese Intelligenzlerspielchen rauben ihm nicht Geduld und Fassung. Eine »Blindeinreibung« könnte Wirkung auf ihn haben, eine alte Überredungsmethode. Aber in der Butyrka gibt es keinerlei »Blindeinreibung«. Der Egoist ist schon bereit, seinen Sieg zu feiern – der Boykott verfehlt die nötige Wirkung.
Doch der Älteste, doch die Leute aus der Gefängniszelle haben noch ein durchgreifendes Mittel in der Hand. Jeden Tag, bei der abendlichen Überprüfung, bei der Dienstübergabe, fragt der neue, zum Dienst antretende Kommandant nach der Vorschrift die Häftlinge: »Gibt es Anträge?«
Der Älteste tritt einen Schritt vor und verlangt, den boykottierenden Starrkopf in eine andere Zelle zu verlegen. Gründe für die Verlegung braucht er nicht anzugeben, es reicht aus, sie zu verlangen. Spätestens nach vierundzwanzig Stunden, manchmal auch früher, wird die Verlegung unbedingt erfolgen – der öffentliche Hinweis entbindet die Ältesten von der Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Disziplin in der Zelle.
Wenn er nicht verlegt wird, kann der Starrkopf geschlagen oder gar noch erschlagen werden – die Häftlingsseele ist dunkel, und derartige Vorfälle ziehen unangenehme mehrmalige Erklärungen des diensthabenden Gebäudekommandanten gegenüber der Leitung nach sich.
Falls es eine Untersuchung gibt nach diesem Gefängnismord, wird sich sofort herausstellen, daß der Gebäudekommandant einen Hinweis hatte. Besser schon im Guten in eine andere Zelle verlegen, diesem Verlangen nachgeben.
Als Verlegter und nicht aus der »Freiheit« in eine andere Zelle zu kommen, ist nicht sehr angenehm. Das weckt immer Verdacht und Vorsicht bei den neuen Kameraden – ist das nicht ein Denunziant? »Noch gut, wenn er nur wegen der Verweigerung der ›Armenkomitees‹ zu uns verlegt wurde«, denkt der Älteste der neuen Zelle. »Und wenn es Schlimmeres ist?« Der Älteste wird versuchen, den Grund der Verlegung zu erfahren – durch ein Zettelchen, das er auf den Boden des Mülleimers im Klosett versenkt, durch Klopfzeichen nach dem System des Dekabristen Bestushew oder nach dem Morsealphabet.
Ehe er die Antwort erhalten hat, braucht der Neue nicht auf das Mitgefühl oder Vertrauen der neuen Kameraden zählen. Es vergehen viele Tage, der Grund der Verlegung ist geklärt, die Aufregung hat sich gelegt, aber auch in der neuen Zelle gibt es ein »Armenkomitee«, gibt es die Abgaben.
Alles fängt von vorne an – wenn es anfängt, denn in der neuen Zelle wird sich der Starrkopf, durch die bittere Erfahrung belehrt, anders verhalten. Sein Starrsinn ist gebrochen.
In den Untersuchungszellen des Butyrka-Gefängnisses hatte es keine »Armenkomitees« gegeben, solange Sach- und Lebensmittelübergaben erlaubt waren und die Nutzung des Gefängnisladens praktisch nicht eingeschränkt war.
Die »Armenkomitees« entstanden in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre als interessante Form des »Eigenlebens« der Untersuchungshäftlinge, eine Form der Selbstbehauptung des rechtlosen Menschen: das winzige Revier, in dem das menschliche Kollektiv, einig wie es im Gefängnis immer ist, im Unterschied zur »Freiheit« und zum Lager, in seiner vollkommenen Rechtlosigkeit einen Punkt findet, wo es seine seelischen Kräfte zur nachdrücklichen Bestätigung des ewigen menschlichen Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben anwenden kann. Diese seelischen Kräfte stehen allen und jeglichen Gefängnis- und Untersuchungsvorschriften entgegen und tragen den Sieg über sie davon.
1959
Magie
Ein Stock schlug ans Glas, und ich erkannte ihn. Das war die Reitgerte des Abteilungschefs.
»Ich komme gleich«, rief ich durchs Fenster, zog die Hosen an und knöpfte den Kragen der Militärbluse zu. Im selben Moment erschien auf der Zimmerschwelle der Bote des Chefs, Mischka, und trug mit lauter Stimme die übliche Formel vor, mit der jeder meiner Arbeitstage begann:
»Zum Chef!«
»Ins Kabinett?«
»Auf die Wache!«
Aber ich war schon draußen.
Mir fiel die Arbeit mit diesem Chef leicht. Er war nicht grausam zu den Häftlingen, war klug, und auch wenn er alle abstrakten Dinge ständig in seine grobe Sprache übersetzte, verstand er seine Sache.
Allerdings war damals die »Umschmiedung« in Mode, und der Chef wollte auf unbekanntem Gelände einfach im richtigen Fahrwasser bleiben.
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