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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Vielleicht. Vielleicht. Damals dachte ich darüber nicht nach.
    Ich wußte, daß der Chef – Stukow hieß er – viele Zusammenstöße mit der obersten Leitung hatte, man ihm im Lager viele Verfahren »angehängt« hatte, aber ich kenne weder Einzelheiten noch den Kernpunkt dieser im Sande verlaufenen Verfahren, der nicht eingeleiteten, sondern eingestellten Untersuchungen.
    Mich mochte Stukow, weil ich kein Bestechungsgeld nahm und Betrunkene nicht mochte. Aus irgendeinem Grund haßte Stukow Betrunkene ... Außerdem mochte er mich wahrscheinlich für meinen Mut.
    Stukow war ein alter Mann, er lebte allein. Er interessierte sich sehr für alle möglichen Neuigkeiten aus Technik und Wissenschaft, und Erzählungen von der Brooklyn-Bridge versetzten ihn in Begeisterung. Aber ich konnte von nichts erzählen, was der Brooklyn-Bridge ähnlich gewesen wäre.
    Das erzählte Stukow dafür Miller, Pawel Petrowitsch Miller, ein Ingenieur aus dem Schachty-Prozeß .
    Miller war der Liebling Stukows, der gierig allen möglichen Neuigkeiten aus der Wissenschaft lauschte.
    Ich holte Stukow an der Wache ein.
    »Du schläfst immer.«
    »Ich schlafe nicht.«
    »Und daß eine Etappe gekommen ist aus Moskau, das weißt du? Über Perm. Ich sage ja, du schläfst. Hol deine Leute, und wir werden aussuchen.«
    Unsere Abteilung stand am äußersten Ende der Welt der Freien, am Endpunkt der Eisenbahnlinie – weiter ging es in mehrtägigen Fußtransporten durch die Tajga, und Stukow hatte das Recht, die Leute, die er brauchte, gleich hierzubehalten.
    Es war eine staunenswerte Magie, das waren Kunststückchen vielleicht aus der angewandten Psychologie, diese Kunststückchen, die Stukow zeigte, mein bei der Arbeit in den Haftanstalten alt gewordener Chef. Stukow brauchte Zuschauer, und nur ich wußte wahrscheinlich sein erstaunliches Talent zu würdigen, seine Fähigkeiten, die mir lange Zeit überirdisch erschienen, bis zu dem Moment, wo ich spürte, daß auch ich über diese magische Kraft verfüge.
    Die oberste Leitung hatte erlaubt, fünfzig Zimmerleute in der Abteilung zu behalten. Die Etappe trat vor dem Chef an, aber nicht einzeln, sondern in Dreier- oder Viererreihen.
    Stukow lief die Etappe langsam ab und klopfte mit der Reitgerte an seine ungeputzten Stiefel. Ab und zu ging Stukows Hand hoch.
    »Tritt du vor, du. Und du. Nein, nicht du. Da hinten, du ...«
    »Wie viele sind vorgetreten?«
    »Zweiundvierzig.«
    »Gut, dann noch acht.«
    »Du ... Du ... Du ...«
    Wir alle machten ein Namensverzeichnis und suchten die Lagerakten heraus.
    Alle fünfzig konnten mit Axt und Säge umgehen.
    »Dreißig Schlosser!«
    Stukow lief die Etappe ab, schaute ein wenig finster.
    »Tritt du vor ... Du ... Du ... Und du zurück. Von den Ganoven, was?«
    »Von den Ganoven, Bürger Natschalnik.«
    Ohne einen einzigen Irrtum wurden dreißig Schlosser ausgewählt.
    Zehn Kanzleikräfte wurden gebraucht.
    »Kannst du sie mit bloßem Auge aussuchen?«
    »Nein.«
    »Dann gehen wir.«
    »Tritt du vor ... Du ... Du ...«
    Sechs Personen waren vorgetreten.
    »Mehr Buchhalter gibt es nicht in dieser Etappe«, sagte Stukow.
    Er überprüfte es an den Akten, und tatsächlich: mehr gab es nicht. Wir suchten uns Kanzleikräfte aus den folgenden Etappen.
    Das war Stukows Lieblingsspiel, das mich in höchtes Erstaunen versetzte. Stukow selbst freute sich wie ein Kind über seine magischen Fähigkeiten und litt, wenn er die Sicherheit verlor. Er irrte sich nicht, er verlor einfach die Sicherheit, und wir machten mit der Einstellung von Leuten Schluß.
    Ich verfolgte jedesmal mit Vergnügen dieses Spiel, das weder mit Grausamkeit zu tun hatte noch mit fremdem Blut.
    Ich war verblüfft von so viel Menschenkenntnis. War verblüfft von jener uralten Verbindung von Seele und Körper.
    Wie oft hatte ich diese Kunststücke, diese Demonstrationen der geheimnisvollen Kraft meines Chefs gesehen. Dahinter stand nichts als die langjährige Erfahrung mit Gefangenen. Die Häftlingskleidung verwischt die Unterschiede, und das erleichtert die Aufgabe nur – den Beruf eines Menschen an seinem Gesicht und seinen Händen abzulesen.
    »Wen werden wir heute aussuchen, Bürger Natschalnik?«
    »Zwanzig Zimmerleute. Und hier habe ich ein Telephonogramm aus der Verwaltung bekommen – alle auswählen, die früher in den Organen gearbeitet«, Stukow lächelte, »und die soziale oder Dienst-Vergehen haben. Sie werden also wieder am Tisch des Untersuchungsführers sitzen. Na, was denkst du

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