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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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sicheren Tage und Nächte hatte.
    All das wußte Krist, er verstand es sehr genau und wußte es, wußte es schon lange, und er schützte sich nach Kräften. Doch sich zu schützen war unmöglich.
    Jetzt endete die dritte, die zehnjährige Haftzeit – und die Zahl der Verhaftungen, der begonnenen »Verfahren«, der Versuche, über ihn eine Haftstrafe zu verhängen, die für Krist im Sande verliefen – d. h. seinen Sieg bedeuteten, seinen Erfolg –, war schon schwer zu bestimmen. Krist versuchte das auch nicht. Im Lager ist das ein schlechtes Omen.
    Vor Zeiten hatte Krist, als neunzehnjähriger Bengel, seine erste Haftstrafe erhalten. Selbstlosigkeit, sogar Opferbereitschaft und der Wunsch, nicht zu befehlen, sondern alles mit eigenen Händen zu tun, hatten schon immer in Krists Seele gelebt, zusammen mit einer leidenschaftlichen Auflehnung gegen einen fremden Befehl, eine fremde Meinung, einen fremden Willen. Auf dem Grund von Krists Seele hatte sich immer der Wunsch bewahrt, sich mit dem Menschen zu messen, der am Tisch des Untersuchungsführers saß – ein Wunsch, anerzogen in der Kindheit, durch die Lektüre, durch die Menschen, die Krist in seiner Jugend gesehen und von denen er gehört hatte. Solche Menschen gab es viele in Rußland, im Rußland der Bücher zumindest, in der gefährlichen Welt der Literatur.
    Krist wurde der »Bewegung« zugerechnet in allen Karteien der Union, und als das Signal zur nächsten Hetzjagd kam, fuhr er mit dem tödlichen Signum » KRTD « an die Kolyma. Als Kürzel-Träger, als
»litjorka«
, gezeichnet von dem gefährlichsten Buchstaben »T«. Ein Blättchen dünnes Zigarettenpapier, in Krists Lagerakte geklebt, ein Blättchen dünnes durchsichtiges Papier – »Spezialanweisung aus Moskau«, der Text war mit Lichtdruck sehr unleserlich, sehr schlecht gedruckt, oder es war irgendein Exemplar Nummer zehn von der Schreibmaschine, Krist hatte Gelegenheit gehabt, dieses todbringende Blatt in der Hand zu halten, und sein Name war mit fester Hand, mit der ruhig klaren Schrift der Kanzleikraft eingetragen, als bräuchte es gar keinen Text – wer blind unterschreibt, trägt den Namen schon richtig ein, setzt die Tinte in die richtige Zeile. »Für die Zeit der Haft Entzug der telegraphischen und Postverbindung, Einsatz nur zu schweren körperlichen Arbeiten, einmal pro Quartal Bericht über das Verhalten.«
    Die »Spezialanweisungen« waren der Befehl zu töten, nicht mehr lebendig freizulassen, und Krist war das klar. Nur hatte er keine Zeit, daran zu denken. Und – er mochte nicht denken.
    Jeder Häftling mit »Spezialanweisung« wußte, daß dieses Blättchen Zigarettenpapier jeden künftigen Chef – vom Begleitposten bis zum Chef der Lagerverwaltung – dazu verpflichtet, ihn zu bespitzeln, zu berichten, Maßnahmen zu ergreifen, und daß, wenn irgendein kleiner Chef nicht aktiv ist in der Vernichtung der Häftlinge mit »Spezialanweisung«, seine eigenen Kameraden, die eigenen Arbeitskollegen diesen Chef denunzieren werden. Und daß er die Mißbilligung der obersten Leitung finden wird. Daß seine Karriere im Lager kurz sein wird, wenn er sich nicht aktiv an der Ausführung der Moskauer Befehle beteiligt.
    Bei der Kohleschürfung gab es wenige Häftlinge. Der Buchhalter der Schürfung, zugleich Sekretär des Chefs, der »
bytowik
« Iwan Bogdanow, hatte sich mehrmals mit Krist unterhalten. Es gab eine gute Arbeit – als Wächter. Der bisherige Wächter, ein alter Este, war an Herzschwäche gestorben. Krist träumte von dieser Arbeit. Doch er wurde nicht genommen ... Und er fluchte. Iwan Bogdanow hörte ihn an.
    »Du hast Spezialanweisung«, sagte Bogdanow.
    »Ich weiß.«
    »Weißt du, wie das aussieht?«
    »Nein.«
    »Die Lagerakte existiert in zwei Exemplaren. Eines ist bei der Person, als ihr Paß, und das andere liegt bei der Lagerverwaltung. An das andere, zweite, kommt man natürlich nicht heran, aber niemand hat es dort jemals eingesehen. Entscheidend ist das hiesige Blättchen, das, das dich begleitet.«
    Bald wurde Bogdanow nach woanders versetzt, und er kam sich von Krist verabschieden, auf die Arbeit, zum Erkundungsschurf. Ein kleines Rauchfeuer verscheuchte die Mücken vom Schurf. Iwan Bogdanow setzte sich an den Rand des Schurfs und zog ein Blättchen aus der Jacke, ein sehr dünnes verblaßtes Blättchen.
    »Ich fahre morgen. Hier sind deine Spezialanweisungen.«
    Krist las. Und merkte es sich für immer. Iwan Bogdanow nahm das Blättchen und verbrannte es im

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