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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Feuer, er ließ es nicht aus der Hand, bis der letzte Buchstabe verbrannt war.
    »Ich wünsche dir ...«
    »Leb wohl.«
    Der Chef hatte gewechselt – Krist hat im Leben viele, viele Chefs gehabt –, der Sekretär des Chefs hatte gewechselt.
    Krist ermüdete jetzt sehr im Schacht und wußte, was das bedeutet. Die Stelle an der Winde wurde frei. Aber Krist hatte niemals mit Mechanismen zu tun gehabt und sah selbst den Musikschrank zweifelnd und unsicher an. Doch Semjonow, ein Ganove, der von der Arbeit des Windenführers zu einer besseren Arbeit wechselte, beruhigte Krist:
    »Du,
frajer
, bist ein solcher
loch
, nichts zu machen. Ihr seid alle gleich, ihr
frajer
. Alle. Wovor hast du Angst? Ein Häftling braucht vor keinem Mechanismus Angst zu haben. Hier kannst du es lernen. Keinerlei Verantwortung. Du mußt dich bloß trauen, sonst gar nichts. Geh an die Hebel und halt mich nicht hier, sonst ist auch meine Chance futsch ...«
    Obwohl Krist wußte, daß die Ganoven das eine und ein
frajer
– besonders ein
frajer
mit dem Kürzel »KRTD« – etwas ganz, ganz anderes ist, wenn es um Verantwortung geht, übertrug sich Semjonows Zuversicht auf ihn.
    Der Arbeitsanweiser war noch der alte und schlief nebenan, in der Ecke der Baracke. Krist ging zum Arbeitsanweiser.
    »Du hast doch Spezialanweisung.«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Du selbst weißt es nicht. Nehmen wir mal an, daß auch ich deine Akte nicht kenne. Wir probieren es.«
    Und so wurde Krist Windenführer, schaltete die Hebel der elektrischen Winde ein und aus, spulte das Stahlseil ab und ließ die Förderwagen in den Schacht hinunter. Er erholte sich ein wenig. Einen Monat erholte er sich. Und dann kam irgendein Mechaniker, ein
bytowik
, und Krist wurde wieder in den Schacht geschickt; er schob die Förderwagen, füllte Kohle ein und sagte sich, daß der Mechaniker, der
bytowik
, auch nicht lange bleiben wird auf einer so unbedeutenden Arbeit ohne »Fettaugen«, wie Windenführer beim Schacht – daß nur für »
litjorki
« wie Krist die Schachtwinde das Paradies ist, und wenn der Mechaniker geht – wird wieder Krist diese segensreichen Hebel bedienen und den Hebelschalter der Winde einschalten.
    Nicht einen Tag seiner Lagerzeit hatte Krist vergessen. Von dort, vom Schacht, hatte man ihn in die Spezialzone gebracht, vor Gericht gestellt und eben diese Haftstrafe verhängt, deren Ende nahte.
    Krist hatte einen Feldscherlehrgang abschließen können; er war am Leben geblieben und hatte, was noch wichtiger ist, Unabhängigkeit gewonnen – eine wichtige Beigabe eines medizinischen Berufs im Hohen Norden, im Lager. Heute leitete Krist die Aufnahme des riesigen Lagerkrankenhauses.
    ____
    Doch zu entrinnen war unmöglich. Das »T« in Krists Kürzel war das Zeichen, das Brandmal, das Stigma, das Attribut, dessenthalben gegen Krist viele Jahre gehetzt und er nicht aus den eisigen Goldminen der Kolyma mit ihren sechzig Grad Frost entlassen wurde. Weshalb man ihn umzubringen versuchte durch schwere Arbeit, seine Kräfte übersteigende Lagerarbeit, die man rühmte als Sache der Ehre, Sache des Ruhmes, der Tapferkeit und des Heldentums, umzubringen mit den Schlägen der Chefs, den Kolben der Begleitposten, den Fäusten der Brigadiere, dem Gerempel der Friseure, den Ellbogen der Kameraden ... Umzubringen durch den Hunger – mit der dünnen Lagerbrühe.
    Krist wußte, er hatte es gesehen und zahllose Male beobachtet, daß kein anderer Artikel des Strafgesetzbuchs für den Staat so gefährlich war, wie sein, Krists Kürzel mit dem Buchstaben »T«. Weder Vaterlandsverrat noch Terror, noch dieses ganze schreckliche Bündel von Punkten des Artikels achtundfünfzig. Krists Kürzel aus vier Buchstaben war das Attribut des Tieres, das umzubringen war, umzubringen befohlen war.
    Sämtliche Begleitposten aller Lager des Landes in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft machten Jagd auf dieses Kürzel – kein Chef der Welt hätte bei der Vernichtung eines solchen »Volksfeindes« Schwäche zeigen wollen.
    Heute ist Krist Feldscher in einem großen Krankenhaus und führt einen großen Kampf gegen die Ganoven, gegen jene Welt der Kriminellen, die der Staat im Jahr siebenunddreißig zu Hilfe holte, um Krist und seine Kameraden zu vernichten.
    Im Krankenhaus arbeitete Krist sehr viel und scheute weder Zeit noch Kräfte. Die oberste Leitung hatte, auf ständigen Befehl aus Moskau, immer wieder verfügt, solche wie Krist zu den allgemeinen Arbeiten zurückzuschicken, zu entfernen.

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