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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Aufwachraum war klein, aber in diesem Krankenhaus wurde wenig operiert, und jetzt lagen dort keineswegs Chirurgiepatienten. Golubew lag auf dem Rücken und berührte vorsichtig die Binde, die wie der Hüftgürtel der indischen Fakire oder irgendwelcher Yogis gewickelt war. Solche Zeichnungen hatte Golubew in den Zeitschriften seiner Kindheit gesehen und dann fast sein ganzes Leben nicht gewußt – gibt es solche Fakire oder Yogis in Wirklichkeit oder nicht. Doch der Gedanke an die Yogis blitzte im Hirn auf und verschwand. Die Willensanstrengung, die Nervenanstrengung fiel ab, und das angenehme Gefühl einer erfüllten Pflicht erfüllte Golubews Körper. Jede Zelle seines Körpers sang und summte etwas Schönes. Das war eine Atempause von einigen Tagen. Vom Abtransport in die Ungewißheit des
katorga
-Lagers war Golubew vorläufig verschont. Das war ein Aufschub. Wie viele Tage verheilt eine Wunde? Sieben, acht. Also wird es in zwei Wochen wieder gefährlich. Zwei Wochen sind eine sehr ferne Zeit, eine tausendjährige Frist, lang genug, um sich auf neue Prüfungen vorzubereiten. Und die Zeit der Verheilung der Wunde beträgt ja sieben, acht Tage nach dem Lehrbuch und bei primären Verläufen, wie die Ärzte sagten. Und wenn die Wunde eitert? Wenn sich das Pflaster, das die Wunde bedeckt, vorzeitig von der Haut löst? Golubew betastete vorsichtig das Pflaster, die feste, schon angetrocknete, mit Gummi arabicum getränkte Gaze. Er tastete durch die Bandage. Ja ... Das ist noch ein Ausweg, eine Reserve, ein paar weitere Tage oder auch Monate. Wenn es nötig wird. Golubew erinnerte sich an das große Krankenzimmer im Bergwerk, wo er vor einem Jahr gelegen hatte. Dort wickelten beinahe alle Kranken nachts ihre Verbände ab, streuten rettenden Schmutz hinein, echten Schmutz vom Fußboden, kratzten die Wunden auf, brachten sie zum Eitern. Damals hatten diese nächtlichen Verbandswechsel bei Golubew – dem Neuling – Erstaunen, beinahe Verachtung geweckt. Doch ein Jahr war vergangen, und die Handlungen der Kranken wurden Golubew verständlich, weckten fast seinen Neid. Heute kann er die Erfahrung von damals anwenden. Golubew schlief ein und wachte davon auf, daß jemandes Hand die Decke von seinem Gesicht zurückschlug. Golubew schlief immer in Lagermanier, mit dem Kopf unter der Decke, um vor allem den Kopf zu wärmen, zu schützen. Über Golubew beugte sich ein sehr schönes Gesicht – mit Schnurrbart und einer Frisur Marke Polka oder Fassonschnitt. Kurz, der Kopf war keineswegs der eines Häftlings, und Golubew schlug die Augen auf und dachte, daß das eine Erinnerung war wie die Yogis oder ein Traum – ein böser Traum vielleicht, aber vielleicht auch kein böser.
    »Ein
frajer
«, krächzte der Kerl enttäuscht und bedeckte Golubews Gesicht mit der Decke. »Ein
frajer
. Keine Menschen da.«
    Doch Golubew schlug die Decke zurück mit seinen kraftlosen Fingern und sah den Mann an. Dieser Mann kannte Golubew, und Golubew kannte ihn. Ohne Frage. Aber lieber Zeit lassen, sich lieber Zeit lassen, ihn zu erkennen. Man muß sich gut erinnern. An alles erinnern. Und Golubew erinnerte sich. Der Mann mit dem Fassonschnitt war ... Jetzt wird sich der Mann am Fenster das Hemd ausziehen, und Golubjow wird auf seiner Brust ein Knäuel ineinander verschlungener Schlangen sehen. Der Mann drehte sich um, und das Knäuel ineinander verschlungener Schlangen erschien vor Golubews Augen. Das war Kononenko, ein Ganove, mit dem Golubjow vor einigen Monaten in derselben Etappe war, ein Mörder, vielfach verurteilt, ein berühmter Ganove, der sich schon einige Jahre in Krankenhäusern und Untersuchungsgefängnissen »festgesetzt« hatte. Sobald der Moment der Entlassung kam, brachte Kononenko im Durchgangslager jemanden um, ganz gleich wen, irgendeinen
frajer
– er erdrosselte ihn mit einem Handtuch. Das Handtuch, ein Lager-Handtuch, war Kononenkos liebstes Mordinstrument, seine persönliche Handschrift. Er wurde verhaftet, ein weiteres Verfahren eingeleitet, wieder verurteilt, er bekam eine weitere fünfundzwanzigjährige Haftstrafe zu den vielen hundert Jahren, die schon auf Kononenko warteten. Nach dem Gerichtsverfahren bemühte sich Kononeko, zur »Erholung« ins Krankenhaus zu kommen, dann tötete er wieder, und alles begann von vorn. Erschießungen von Ganoven waren damals abgeschafft. Erschießen konnte man nur »Volksfeinde«, nach Artikel achtundfünfzig.
    Jetzt ist Kononenko im Krankenhaus, überlegte Golubew ruhig, und jede

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