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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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zurückkommst – kriegst du ...«
    Damals verstand ich den wahren Sinn der Worte des Wirtschaftsleiters nicht.
    Irgendein unbekannter Zivilist brachte mich an den Rand der Siedlung, wo das winzige Häuschen des Bevollmächtigten der Kreisabteilung stand.
    Ich saß in der Dämmerung vor den dunklen Fenstern von Fjodorows Hütte, kaute einen Strohhalm vom letzten Jahr und dachte an nichts. Vor der Hütte stand eine ordentliche Bank, aber für Häftlinge ziemte es sich nicht, auf der Bank der Chefs zu sitzen. Ich streichelte und kratzte meine pergamenttrockene, gesprungene, schmutzige Haut unter der Wattejacke und lächelte. Etwas ganz bestimmt Gutes würde mir bevorstehen. Ein erstaunliches Gefühl der Erleichterung, fast des Glücks hatte mich ergriffen. Morgen und übermorgen würde ich nicht zur Arbeit gehen, nicht die Hacke schwingen müssen und diesen verfluchten Stein hauen, daß bei jedem Schlag die bindfadendünnen Muskeln zucken.
    Ich wußte, daß ich immer eine neue Haftstrafe riskiere. Die entsprechenden Lagertraditionen kannte ich gut. 1938 , im grausamen Kolyma-Jahr, bekamen vor allem jene ein »Verfahren angehängt«, die eine kurze Haftstrafe hatten, deren Haftzeit zu Ende ging. So machten sie es immer. Hierher, in die Strafzone Dshelgala, war ich als »Überfälliger« gekommen. Meine Haftzeit war im Januar zweiundvierzig zu Ende gewesen, doch ich wurde nicht entlassen, sondern »bis Kriegsende in den Lagern gehalten«, wie Tausende, Zehntausende andere. Bis Kriegsende! Einen Tag zu überleben war schwer –, und erst ein Jahr. Alle »Überfälligen« wurden Gegenstand der besonders angespannten Aufmerksamkeit der Untersuchungsorgane. Ein »Verfahren« hatte man mir beharrlich auch in Arkagala »aufzudrücken« versucht, von wo ich nach Dshegala kam. Aber nicht aufdrücken können. Sie erreichten nur meine Verlegung in die Strafzone, was natürlich an sich ein schlechtes Zeichen war. Aber warum sich mit Gedanken an etwas quälen, das ich nicht ändern kann?
    Ich wußte natürlich, daß ich in Gesprächen, im Verhalten besonders vorsichtig sein mußte: ich bin ja kein Fatalist. Und dennoch – was ändert es, wenn ich alles weiß, alles voraussehe? Mein Leben lang kann ich mich nicht zwingen, einen Schurken einen rechtschaffenen Menschen zu nennen. Und ich meine, dann lieber gar nicht leben, als überhaupt nicht mit Menschen zu sprechen oder das Gegenteil dessen zu sagen, was man denkt.
    Welchen Sinn hat die
menschliche Erfahrung
?, fragte ich mich, unter Fjodorows dunklem Fenster auf der Erde sitzend. Welchen Sinn hat es, zu wissen, zu fühlen, zu ahnen, daß dieser Mensch ein Spitzel und Denunziant ist, der dort ein Schuft und jener ein rachsüchtiger Feigling? Daß es für mich vorteilhafter, nützlicher, rettender ist, Freundschaft mit ihnen zu pflegen anstatt Feindschaft. Oder wenistens – zu schweigen. Man muß nur lügen – vor ihnen und vor sich selbst, und das ist unerträglich schwer, viel schwerer, als die Wahrheit zu sagen. Welchen Sinn hat es, wenn ich meinen Charakter, mein Verhalten nicht ändern kann? Wozu brauche ich denn diese verfluchte »Erfahrung«?
    Im Zimmer ging das Licht an, der Vorhang wurde zugezogen, die Tür der Hütte ging auf, und der Gehilfe winkte mir von der Schwelle und forderte mich auf, einzutreten.
    Das ganze winzige, niedrige Zimmer – das Dienstkabinett des Bevollmächtigten der Kreisabteilung – nahm ein riesiger Schreibtisch mit einer Menge Schubladen ein, übersät mit Aktendeckeln, Bleistiften, Bleistiften, Heften. Außer dem Tisch paßten in das Zimmer gerade noch zwei selbstgebaute Stühle. Auf dem einen, angestrichenen saß Fjodorow. Der zweite, ungestrichen und glänzend von Tausenden Arrestantenhintern, war für mich bestimmt.
    Fjodorow deutete auf den Stuhl, raschelte mit Papieren, und das »Verfahren« begann ...
    Drei Gründe »zerbrechen« das Leben des Gefangenen im Lager, das heißt können es verändern: schwere Krankheit, eine neue Haftzeit oder irgend etwas Ungewöhnliches. Ungewöhnliches, Zufälliges gibt es in unserem Leben gar nicht so wenig.
    Mit jedem Tag in den Gruben von Dshelgala immer schwächer werdend, hoffte ich, ins Krankenhaus zu kommen, und dort würde ich sterben oder mich erholen, oder sie schicken mich irgendwohin. Ich fiel um vor Müdigkeit und Schwäche und schleifte beim Laufen die Füße über den Boden, – eine winzige Unebenheit, ein Steinchen, ein dünnes Hölzchen auf dem Weg waren unüberwindlich. Doch in der

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