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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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schnipste mit den Fingern und öffnete den Riegel. Vertraulich lächelnd trat die Nachtschwester ins Zimmer.
    »Geben Sie mir die Krankengeschichte dieser Kranken«, sagte Gennadij Petrowitsch. »Bringen Sie sie fort. Verzeihen Sie mir, Katja.«
    Gennadij Petrowitsch nahm die Mappe mit Glowazkajas Krankengeschichte und setzte sich an den Tisch.
    »Hier sehen Sie, Wassilij Kalinytsch«, sagte der Krankenhaus-Chef am nächsten Morgen zum neuen Parteiorganisator, »Sie sind neu an der Kolyma, Sie kennen nicht alle Gemeinheiten der Herren
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-Häftlinge. Hier lesen Sie, was der diensthabende Arzt hingelegt hat. Hier ist Sajzews Rapport.«
    Der Parteiorganisator ging ans Fenster, schob den Vorhang beiseite und ließ das Licht, das gebrochen durch die dickvereiste Scheibe drang, auf den Rapport fallen.
    »Na?«
    »Das scheint mir sehr gefährlich ...«
    Der Chef lachte auf.
    »Mich«, sagte er wichtig, »mich wird Herr Podschiwalow nicht hereinlegen.«
    Podschiwalow war Häftling, Leiter des Zirkel für Laienkunst, des »Leibeigenentheaters«, wie der Chef scherzte.
    »Was hat denn der?..«
    »Das hat er, mein lieber Wassilij Kalinytsch. Dieses Mädel – Glowazkaja – war in der Kulturbrigade, und Künstler, Sie wissen ja, genießen gewisse Freiheiten. Sie ist die Geliebte von Podschiwalow«
    »Aha ...«
    »Selbstverständlich haben wie sie, sobald das entdeckt wurde, von der Brigade ins Frauenstrafbergwerk verfrachtet. In solchen Fällen, Wassilij Kalinytsch, trennen wir das Liebespaar. Den Nützlicheren und Wichtigeren von beiden behalten wir hier, und der andere – in die Strafmine ...«
    »Das ist nicht sehr gerecht. Man müßte beide ...«
    »Keineswegs. Das Ziel ist ja die Trennung. Der Nützliche bleibt beim Krankenhaus. Der Wolf ist satt und das Schaf ist heil.«
    »Ja, ja ...«
    »Hören Sie weiter. Glowazkaja fährt ins Strafbergwerk, und einen Monat später bringen sie sie bleich und krank – dort wissen sie ja, welches Bilsenkraut man schlucken muß –, und legen sie ins Krankenhaus. Ich erfahre es am Morgen und ordne ihre Entlassung an, zum Teufel. Sie wird weggebracht. Drei Tage später bringt man sie wieder. Nun hat man mir gesagt, sie sei eine große Meisterin im Sticken – in der Westukraine sind sie ja alle Meisterinnen, und meine Frau hat gebeten, Glowazkaja für eine Woche hierzubehalten, meine Frau bereitet irgendeine Überraschung zu meinem Geburtstag vor – eine Stickerei vielleicht, ich weiß nicht was ...
    Kurz, ich rufe Podschiwalow und sage ihm: wenn du mir dein Wort gibst, nicht zu versuchen, dich mit Glowazkaja zu treffen – nehme ich sie für eine Woche auf. Podschiwalow schwört und bedankt sich.«
    »Und was? Haben sie sich gesehen?«
    »Nein, sie haben sich nicht gesehen. Aber jetzt schiebt er Strohmänner vor. Dieser Sajzew – keine Frage, er ist ein guter Arzt. War früher sogar berühmt. Jetzt besteht er darauf, schreibt im Rapport: ›Glowazkaja hat ein Aorten-Aneurysma.‹ Alle hatten eine Herzneurose gefunden, eine Stenokardie. Haben sie mit einem Herzfehler, mit einer Fälschung aus der Strafmine hergeschickt – unsere Ärzte haben das sofort aufgedeckt. Sajzew schreibt, bitte schau dir das an, daß ›jede unvorsichtige Bewegung Glowazkajas zum Exitus führen‹ kann. Siehst du, mit wie scharfen Geschützen!..«
    »Ja-a«, sagte der Parteiorganisator, »aber es gibt ja noch andere Internisten, wenn Sie sie fragen.«
    Anderen Internisten hatte der Chef Glowazkaja schon früher vorgestellt, vor Sajzews Bericht. Alle hatten sie brav für gesund erklärt – ihre Entlassung war vom Chef befohlen.
    Es klopfte an der Tür. Sajzew trat ein.
    »Sie sollten sich wenigstens kämmen, bevor sie beim Chef eintreten.«
    »Gut«, antwortete Sajzew und richtete seine Haare. »Ich komme zu Ihnen, Bürger Natschalnik, in einer wichtigen Angelegenheit. Glowazkaja wird abkommandiert. Sie hat ein schweres Aorten-Aneurysma. Jede Bewegung ...«
    »Raus hier!«, schrie der Chef. »Was seid ihr dreist, ihr Schufte! Erscheint im Kabinett ...«
    Nach der traditionellen bedächtigen Durchsuchung packte Katja ihre Sachen zusammen, steckte sie in den Beutel und reihte sich in die Etappe ein. Der Begleitposten rief sie auf, sie machte ein paar Schritte, und die gewaltige Krankenhaustür schob sie nach draußen. Der Lastwagen, mit einer Zeltplane bedeckt, stand vor dem Krankenhausaufgang. Das hintere Verdeck war zurückgeschlagen. Eine Krankenschwester streckte Katja aus dem Kasten die Hand

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