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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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»Latrinenparolen« des Lagers, jene »Latrinenparolen«, die sich immer bewahrheiten. Irgendwelche Chefs, hieß es, sind gekommen, mit einem ganzen Lkw voller Soldaten und einem Gefängnisbus, einem »Schwarzen Raben«, um ihre Beute in die
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-Lager zu fahren. Die örtliche Leitung wurde unruhig, die Großen wirkten plötzlich klein neben den Herren über Leben und Tod – irgendwelche unbekannten Kapitäne, Majore und Oberstleutnants. Die Oberstleutnants versteckten sich irgendwo in den Tiefen der Kabinette. Kapitäne und Majore rannten über den Hof mit irgendwelchen Listen, und auf diesen Listen war ganz gewiß der Name Golubews. Golubew spürte, er wußte das. Aber noch war nichts bekanntgegeben, niemand aufgerufen worden. Noch war aus der Zone niemand abgeholt worden.
    Vor etwa einem halben Jahr, während des üblichen Besuchs des »Schwarzen Raben« in der Siedlung und der üblichen Jagd auf Menschen, stand Golubew, der damals nicht auf den Listen war, neben dem Chirurgen, selbst einem Häftling, an der Wache. Der Chirurg arbeitete in dem kleinen Krankenhaus nicht nur als Chirurg, sondern behandelte alle Krankheiten.
    Der übliche Trupp der erwischten, überführten, entlarvten Häftlinge wurde in den »Schwarzen Raben« gestoßen. Der Chirurg verabschiedete sich von seinem Freund – jener wurde fortgefahren.
    Golubew stand neben dem Chirurgen. Und als das Auto davonkroch, eine Staubwolke aufwirbelte und in einer Bergschlucht verschwand, sagte der Chirurg und sah Golubew in die Augen, sagte über seinen Freund, der in den Tod fuhr: »Selber schuld. Eine akute Blinddarmentzündung – und er wäre hier geblieben.«
    Golubew hatte sich diese Worte gut gemerkt. Nicht den Gedanken, nicht die Einschätzung hatte er sich gemerkt. Es war eine visuelle Erinnerung: die harten Augen des Chirurgen, die mächtigen Staubwolken ...
    »Der Arbeitsanweiser sucht dich«, jemand kam gelaufen, und Golubew sah den Arbeitsanweiser.
    »Pack deine Sachen!« Der Arbeitsanweiser hielt einen Zettel mit einer Liste in der Hand. Die Liste war kurz.
    »Sofort«, sagte Golubew
    »Komm zur Wache.«
    Aber Golubew ging nicht zur Wache. Beide Hände auf die rechte Bauchseite gedrückt, stöhnte er auf und trottete Richtung Sanitätsabteilung.
    Der Chirurg trat auf die Freitreppe hinaus, derselbe Chirurg, und etwas spiegelte sich in seinen Augen, irgendeine Erinnerung. Vielleicht die Staubwolke, in der das Auto verschwand, das den Freund des Chirurgen für immer forttrug.
    Die Untersuchung war kurz.
    »Ins Krankenhaus. Und rufen Sie die Operationsschwester. Zur Assistenz rufen Sie den Arzt aus der freien Siedlung. Eine dringende Operation.«
    Im Krankenhaus, zwei Kilometer von der Zone, wurde Golubew ausgezogen, gewaschen und registriert.
    Zwei Sanitäter führten Golubew und setzten ihn auf den Operationstisch. Mit Leinenbändern banden sie ihn an den Tisch.
    »Jetzt bekommst du eine Spritze«, hörte er die Stimme des Chirurgen. »Aber du scheinst ein tapferer Bursche zu sein.«
    Golubew schwieg.
    »Antworte! Schwester, sprechen Sie mit dem Kranken.«
    »Tut es weh?«
    »Ja.«
    »So ist es immer bei örtlicher Betäubung«, hörte Golubew die Stimme des Chirurgen, der dem Assistenten etwas erklärte. »Nichts als Worte, daß das Schmerzbetäubung ist. Hier ist er ...«
    »Halt noch aus!«
    Golubew zuckte mit dem ganzen Körper von dem heftigen Schmerz, doch beinahe augenblicklich hörte der Schmerz auf, heftig zu sein. Die Chirurgen redeten jetzt durcheinander, fröhlich und laut. Die Operation ging zu Ende.
    »Na, wir haben deinen Blinddarm entfernt. Schwester, zeigen Sie dem Kranken sein Fleisch. Siehst du?« Die Schwester hielt Golubew ein schlangenartiges Stückchen Darm von der Länge eines halben Bleistifts vors Gesicht.
    »Die Vorschrift verlangt, dem Kranken zu zeigen, daß der Schnitt nicht umsonst gemacht wurde, daß der Fortsatz wirklich entfernt wurde«, erklärte der Chirurg seinem freien Assistenten. »Da haben Sie auch ein kleines Praktikum.«
    »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte der freie Arzt, »für die Lektion.«
    »Für die Lektion in Humanität, für die Lektion in Menschenliebe«, äußerte der Chirurg unbestimmt und zog die Handschuhe aus.
    »Wenn so etwas sein sollte, rufen Sie mich unbedingt«, sagte der freie Arzt.
    »Wenn so etwas sein sollte, rufe ich Sie unbedingt«, sagte der Chirurg.
    Die Sanitäter, genesende Kranke in geflickten weißen Kitteln, trugen Golubew in ein Krankenzimmer. Das Zimmer, der

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