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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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entgegen. Aus dem dichten Frostnebel trat Podschiwalow hervor. Er winkte Katja mit dem Fäustling, Katja lächelte ihn ruhig und fröhlich an, reichte der Schwester die Hand und sprang ins Auto.
    Sofort wurde es in Katjas Brust brennend heiß, und im Ohnmächtigwerden sah sie zum letzten Mal Podschiwalows angstverzerrtes Gesicht und die eisbedeckten Krankenhausfenster.
    »Bringen Sie sie in die Aufnahme«, verfügte der diensthabende Arzt.
    »Besser gleich ins Leichenhaus«, sagte Sajzew.
    1960

Ein Stück Fleisch
    Ja, Golubew hatte dieses Blutopfer gebracht. Ein Stück Fleisch wurde aus seinem Körper geschnitten und dem allmächtigen Gott der Lager zu Füßen gelegt. Um den Gott zu besänftigen. Zu besänftigen oder zu betrügen? Das Leben wiederholt die Shakespeareschen Stoffe öfter, als wir glauben. Sind denn Lady Macbeth, Richard III., König Claudius wirklich nur fernes Mittelalter? Ist denn Shylock, der ein Pfund lebendiges Menschenfleisch aus dem Körper des Kaufmanns von Venedig schneiden wollte – ist Shylock wirklich ein Märchen? Natürlich wiegt der Wurmfortsatz des Blinddarms, ein rudimentäres Organ, weniger als ein Pfund. Natürlich wurde das Blutopfer unter Bedingungen vollkommener Sterilität gebracht. Und dennoch ... Das rudimentäre Organ erwies sich als keineswegs rudimentär, sondern als notwendig, funktionierend, lebensrettend ...
    Das Jahresende erfüllt das Leben der Häftlinge mit Unruhe. Alle, die nicht fest auf ihren Posten sitzen (und welcher Häftling ist sicher, daß er fest sitzt?), selbstverständlich alle Artikel-Achtundfünfziger, die sich nach vieljähriger Arbeit im Bergwerk, in Hunger und Kälte, das trügerische, ungewisse Glück von ein paar Monaten, ein paar Wochen Arbeit im eigenen Beruf oder als irgendein »
pridurok
« erobert haben – als Buchhalter, Feldscher, Arzt, Laborant –, alle, die sich durchgeschlagen haben auf Stellen, die von Freien (aber es gibt keine Freien) oder Sozialen besetzt sein sollten – die Sozialen schätzen diese »privilegierten« Arbeiten wenig, denn so eine Arbeit können sie immer finden, und darum saufen sie oder noch Schlimmeres.
    Auf den Planstellen arbeitet Artikel achtundfünzig, und sie arbeiten gut. Hervorragend. Und ohne Hoffnung. Denn eine Kommission wird anreisen, sie finden und entlassen, und auch der Chef bekommt eine Rüge. Und der Chef will die Beziehungen zu dieser hohen Kommission nicht verderben und entläßt im voraus alle, die auf diesen »privilegierten« Stellen nicht sitzen dürfen.
    Ein guter Chef wartet die Anreise der Kommission ab. Soll doch die Kommission selbst arbeiten – wen es ihr zu entlassen gelingt, den entläßt sie und nimmt ihn mit. Mitzunehmen ist leicht, und wen sie nicht entläßt, der bleibt, bleibt für lange – für ein Jahr, bis zum nächsten Dezember. Oder allermindestens für ein halbes Jahr. Ein schlechterer, ein dümmerer Chef entläßt persönlich, schon vor der Anreise der Kommission, um zu berichten, daß alles in Ordnung ist.
    Der schlechteste und am wenigsten erfahrene Chef erfüllt ehrlich alle Befehle der obersten Leitung und gibt Artikel achtundfünfzig keine andere Arbeit als mit Hacke und Schubkarre, mit Säge und Axt.
    Bei diesem Chef läuft es am schlechtesten. Solche Chefs werden schnell entlassen.
    Die Ein- und Überfälle der Kommissionen finden immer zum Jahresende statt – die oberste Leitung hat ihre Rückstände in punkto Kontrollen, und zum Jahresende versucht die oberste Leitung diese Rückstände wettzumachen. Und schickt Kommissionen. Und manch einer fährt auch selbst. Fährt selbst. Dann gibt es Reisegelder, und man hat die »Punkte« nicht ohne persönliche Überwachung gelassen – man kann eine Erledigung abhaken und sich einfach Bewegung verschaffen, spazierenfahren oder auch seinen Charakter, seine Stärke, seine Größe zeigen.
    All das ist den Häftlingen wie auch den Chefs bekannt – von den kleinen zu den allerobersten mit den großen Sternen auf den Schulterstücken. Dieses Spiel ist nicht neu, das Ritual wohlbekannt. Und dennoch aufregend, gefährlich und unabwendbar.
    Dieser Dezemberbesuch kann vielen das Leben »zerbrechen« und die Glückspilze von gestern schnell ins Grab bringen.
    Für niemanden im Lager gibt es nach solchen Besuchen irgendeine Veränderung zum Besseren. Die Häftlinge, besonders Artikel achtundfünfzig, erwarten von solchen Besuchen nichts Gutes. Sie erwarten nur Schlechtes.
    Schon seit dem vorigen Abend gingen Gerüchte, die

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