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Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition)

Titel: Linkes Ufer: Erzählungen aus Kolyma 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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sich nicht die geringsten Gedanken und erwartete nichts Neues.
    Die Neulinge fragten die überlebenden »Aborigines«:
    »Warum eßt ihr Suppe und Grütze in der Kantine, aber tragt das Brot in die Baracke? Warum eßt ihr die Suppe nicht mit Brot wie überall auf der Welt?«
    Mit ihren schrundigen blauen Mündern lächelnd, die vom Skorbut gezogenen Zähne zeigend, antworteten die Einheimischen den naiven Neulingen:
    »In zwei Wochen wird es jeder von euch verstehen und genauso machen.«
    Wie ihnen erzählen, daß sie noch nie im Leben echten Hunger, vieljährigen, den Willen brechenden Hunger erlebt haben – und man nicht ankämpfen kann gegen den leidenschaftlichen, überwältigenden Wunsch, den Vorgang des Essens so lange wie möglich auszudehnen, die Brotration mit einem Becher heißem, geschmacklosen »ausgelassenen« Schneewasser in größter Seligkeit in der Baracke aufzuessen, aufzulutschen.
    Aber nicht alle Neulinge schüttelten verächtlich den Kopf und wandten sich ab.
    Major Pugatschow verstand auch noch etwas anderes. Ihm war klar, daß man sie zum Sterben hergebracht hatte – um diese lebendigen Toten abzulösen. Man hatte sie im Herbst hergebracht – vor dem Winter kann man nirgendwohin fliehen, im Sommer aber, wenn schon nicht ganz entkommen, so doch in Freiheit sterben.
    Und den ganzen Winter wurde das Netz dieser in zwanzig Jahren beinahe einzigen Verschwörung gewoben.
    Pugatschow hatte verstanden, daß den Winter überleben und anschließend fliehen nur kann, wer nicht bei den allgemeinen Arbeiten, in der Grube arbeitet. Nach ein paar Wochen Arbeit in der Brigade wird niemand mehr irgendwohin fliehen.
    Die an der Verschwörung Beteiligten wechselten langsam, einer nach dem anderen, in die Versorgung. Soldatow wurde Koch, Pugatschow selbst Kulturorganisator, ein Feldscher, zwei Brigadiere, und der ehemalige Mechaniker Iwaschtschenko reparierte bei der Wachabteilung Waffen.
    Doch ohne Begleitposten durfte niemand von ihnen »hinter den Stacheldraht«.
    Es begann der blendende Kolyma-Frühling, ohne einen einzigen Regen, ohne Eisgang, ohne Vogelgezwitscher. Nach und nach verschwand der Schnee, von der Sonne verbrannt. Dort, wo die Sonnenstrahlen nicht hinreichten, blieb der Schnee in Felsspalten und Schluchten einfach liegen wie Barren von Silbererz – bis zum nächsten Jahr.
    Und der festgelegte Tag war da.
    An der Tür des winzigen Wachhäuschens – am Lagertor, eines Häuschens mit Ausgängen ins Lager und nach draußen, wo nach der Vorschrift immer zwei Aufseher Dienst tun, wurde geklopft. Der Diensthabende gähnte und schaute auf die Wanduhr. Es war fünf Uhr morgens. »Erst fünf«, dachte der Diensthabende.
    Der Diensthabende löste den Riegel und ließ den Klopfenden ein. Das war der Häftling und Lagerkoch Soldatow, der die Schlüssel für den Lagerraum mit den Lebensmitteln holen kam. Die Schlüssel wurden bei der Wache aufbewahrt, und dreimal am Tag kam der Koch Soldatow diese Schlüssel holen. Anschließend brachte er sie zurück.
    An sich sollte der Diensthabende diese Kammer in der Küche selbst aufschließen, doch der Diensthabende wußte, daß den Koch zu kontrollieren aussichtslos ist, daß Schlösser nicht helfen, wenn der Koch stehlen will, und vertraute dem Koch die Schlüssel an. Erst recht um fünf Uhr morgens.
    Der Diensthabende hatte mehr als ein Jahrzehnt an der Kolyma gearbeitet, erhielt längst das doppelte Gehalt und hatte den Köchen Tausende Male die Schüssel ausgehändigt.
    »Nimm ihn dir«, und der Diensthabende griff nach dem Lineal und beugte sich zum Linienziehen über den Morgenrapport.
    Soldatow trat hinter den Rücken des Diensthabenden, nahm den Schlüssel vom Nagel, steckte ihn in die Tasche und packte den Diensthabenden von hinten an der Gurgel. Im selben Moment ging die Tür auf, und vom Lager her trat durch die Tür in die Wache Iwaschtschenko, der Mechaniker. Iwaschtschenko half Soldatow, den Diensthabenden zu erwürgen und seine Leiche hinter den Schrank zu ziehen. Den Revolver des Diensthabenden steckte Iwaschtschenko in die eigene Tasche. Durch das Fenster nach außen sah man, wie den Pfad entlang der zweite Diensthabende zurückkam. Eilig zog Iwaschtschenko den Mantel des Getöteten an, setzte die Mütze auf, schloß die Koppel und setzte sich an den Tisch, wie der Aufseher. Der zweite Diensthabende öffnete die Tür und trat in den dunklen Verschlag der Wache. Im selben Moment wurde er gepackt, erwürgt und hinter den Schrank geworfen.
    Soldatow

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